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„Dort ist es zu gefährlich, ihr werdet sterben! Lauft zum Luftschutzraum!“, brüllte der Vater, aber keiner hörte auf ihn. Isjas Eltern nahmen die Kinder auf die Arme und liefen in die entgegengesetzte Richtung. Plötzlich ertönte ein schriller Pfiff, danach eine ohrenbetäubende Detonation. Alle warfen sich zu Boden. Von oben regnete es Erdklumpen. Die Eltern mit den Kindern rannten weiter, warfen sich hin, rappelten sich wieder auf und liefen wieder. Isja war, als müßte ihm das Trommelfell platzen. Schließlich erblickten sie eine rechteckige Vertiefung, in die Stufen hinunterführten. Ein Rotarmist öffnete eine schwarze Eisentür. Isja, Ljolja und die Eltern tauchten in die Dunkelheit und Stille des Schutzraumes. Fast eine Stunde saßen sie zitternd dort, noch voller Erde, starr und stumm. Nachdem sich Isjas Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er andere Kinder im Licht einer Petroleumlampe. Einige von ihnen hielten sich an den Händen, tanzten im Kreis und sangen das Lied „Karawaj“. Die Detonationen waren kaum mehr zu hören. Der Krieg schien mit einem Mal fern. Sie verbrachten die Nacht unter der Erde und gingen am nächsten Morgen zur Station, um einen Zug zu finden. Das Gebäude war völlig zerstört. Man erzählte, daß viele Menschen ums Leben gekommen seien, weil sie nicht gewußt hatten, wo sich die Luftschutzräume befanden. Isjas Vater hatte es gewußt, denn er hatte einst die Straße zur Station geplant. Weitere Fliegerangriffe folgten. Doch waren sie nicht so heftig und kamen nicht so unerwartet wie der erste. Mit der Zeit gewöhnten sich die Flüchtlinge an sie. Der Zug, mit dem Isja, seine Schwester und die Eltern unterwegs waren, war voll von Flüchtlingen. Wohin der Zug fuhr, wußte niemand. Das Wich tigste für alle war, sich so weit wie möglich von den schnell vorrückenden Deutschen zu entfernen. Während der Luftangriffe blieb der Zug stehen. Die Eltern packten ihre Kinder und flüchteten in die Felder oder in den Wald. Die deutschen Bomber flogen im Tiefflug über den Zug, man hörte den Lärm der Motoren und bald danach die Explosionen. Ein Maschinengewehr, das auf dem Dach eines Waggons montiert war, feuerte ohne Pause. Isja erinnert sich, daß eine Bombe die Lokomotive zerstörte und den Lokführer tötete. Fast ein ganzer Tag verging, bis die beschädigten Schienen repariert waren und eine neue Lokomotive eingetroffen war. Anfangs hatte Isja Angst, die Flugzeuge anzuschauen und versteckte sein Gesicht im Gras oder in den Armen des Vaters. Später schwand seine Angst. Auf dem Rücken liegend, verfolgte er ihren Flug. Er sah die Hakenkreuze an den Flügeln, einmal sogar den Piloten in seiner Kabine. Isja schien es, als lachte der Pilot. Dann hörten die Bombardierungen auf, denn der Zug hatte sich von der Frontlinie weit genug entfernt. Endlich fand Isjas Familie in einem Dorf mit dem komisch klingenden Namen Kaptinka Unterschlupf. Isjas Vater mußte nun einrücken. Die Mutter arbeitete in der Kolchose. Die Kolchose hat ein Melonenfeld, das bis zum Horizont zu reichen scheint. Isja sieht sich und Ljolja vor dem alten Feldwächter stehen, Isja hat ein Stück Brot im Beutel. „Liebe Kinder“, lächelt der Wächter, „wollt ihr nicht unsere Melonen kosten.“ Er führt die Kinder zu einem Platz, wo die reifen Melonen pyramidenförmig aufgeschichtet sind. Er legt eine Melone auf ein vorbereitetes Brett und zerschlägt sie mit der Faust — wenn sie unter dem Schlag nicht krachend birst, ist sie noch nicht reif. Isja und Ljolja essen Brot und Melonen, dann Melonen, schließlich sind sie satt und naß vom Saft der Melonen. Eine der Melonen ist größer als Ljolja und fast so groß wie Isja selbst. Die Bauern können sie nicht auf den Wagen heben, sondern rollen sie auf der Staubstraße ins Dorf. So verging fast ein Jahr. Die Deutschen rückten weiter vor. Die Front kam wieder näher, die Flucht in den Osten ging weiter. Jetzt waren sie nur mehr zu dritt — die Mutter, Ljolja und Isja. Sie fuhren mit Güterzügen, mußten mehrmals umsteigen und erreichten schließlich im Sommer 1942 die Wolga bei Stalingrad. Dort holte die Front sie wieder ein. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Brücken schon von der deutschen Luftwaffe zerstört. Die Stadt und der Fluß lagen unter feindlichem Feuer. Der Fluß mußte in tiefster Nacht auf einem Lastkahn überquert werden. Der riesige Kahn quoll von Menschen über wie die Tribüne eines Fußballstadions. Sobald der Lastkahn losfuhr, erschien ein Armeeangehöriger auf der Kommandobrücke und verkündete. „Keine Streichhölzer, Lampen oder Kerzen anzünden! Rauchen verboten! Taschenlampen nicht anschalten! Wenn ich ein Licht an Bord sehe, schieße ich ohne Vorwarnung. Bewahren Sie Ruhe und halten Sie sich an die Verdunkelungsvorschriften!“ In der Finsternis konnte man bloß die Umrisse der neben einem Kauernden erkennen. Es war so still, daß man ihren gepreßten Atem hören konnte. Alle waren wie gelähmt vor Angst. Entdeckten die deutschen Flugzeuge den Kahn, würden sie ihn sofort beschießen. Es waren schon mehrere Boote mit allen Insassen versenkt worden. Niemand wagte zu husten oder zu niesen. Begann ein Kind zu weinen, wurde ihm der Mund zugehalten. Einige Kinder machten in die Hose. Plötzlich hörte man in der Ferne das Geräusch von Motoren. Es kam näher. Die Kinder schmiegten 55