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Der zweieinhalbjährige Isja (Isaak Malakh), Tomaschpol 1939 sich an die Eltern, ein Kind erstickte beinahe. Gleich mußten die Bomben fallen... Aber das Geräusch entfernten sich wieder. Die Flugzeuge drehten ab. Es war stickig. Man konnte kaum atmen. Scheinwerfer suchten den Himmel ab. Irgendwo wurde geschossen. Der Kahn glitt langsam und lautlos dahin. Die Flußüberquerung schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann ein Ruck. Das Boot hatte die Anlegestelle am linken Ufer erreicht. In völliger Stille gingen die Menschen an Land und begaben sich zu den Zügen. Später erzählte die Mutter, daß einige Menschen während der Überfahrt an Herzinfarkten gestorben waren. Einige Tage danach, als Isja und seine Familie in einem Zug nach Süden unterwegs waren, bemerkte Isja graue Strähnen im Haar der Mutter. Sie hatte sie nach der Überfahrt bekommen. Aber es waren nicht viele. Isja und Ljolja zupften sie aus. Aralsk erreichten sie in der Nacht. Der Zug wurde auf ein Abstellgleis geschoben. Man sagte den Flüchtlingen, sie würden zwei Tage dort stehen bleiben. Am Morgen gingen die Flüchtlinge in die Stadt. Sie hofften, etwas zum Essen besorgen zu können. Als Isja, Mutter und Ljolja auf den Bahnhofsplatz hinaustraten, schlug ihnen der Geruch von Fisch entgegen. Die ganze Stadt roch nach Fisch. Mit Kriegsbeginn waren alle Transportmittel vom Militär requiriert worden. In den Lagerräumen der Fischfabrik häufte sich nun der Fisch, der nicht mehr weggebracht werden konnte. Fischer und Händlerinnen tauschten am Markt riesengroße, bis zu einem Meter lange Fische gegen Brot. Isja fragte, wie die 56 Fische hießen. „Das sind Karpfen, Gründlinge und Barben“, erklärte ein Fischer. Kleinere Fische wurden verschenkt oder weggeschmissen. Ganz Aralsk war voll Fisch. Roh, geräuchert, gesalzen, gedörrt lag er auf den Straßen und in den Gemüsegärten, am Marktplatz und auf dem Platz vor dem Bahnhof. Der Bahnsteig war mit vielerlei Arten von Fischen und mit Fischschuppen bedeckt. Die Mutter brachte einen ganzen Sack getrockneter Fische, Wobla und Zährte, mit. Wie lecker schmeckten die in Fett goldbraun gebackenen Zährte! Die Kinder aßen, und das Fett rann ihnen über Kinn und Hände. Noch heute, fünfzig Jahre später, läuft Isja das Wasser im Mund zusammen, wenn er an Aralsk denkt. Nachdem sie sich satt gegessen hatten, stiegen sie einen Hügel hinauf. Hinter den Häusern der Stadt erblickten sie eine unendlich scheinende Wasserfläche. „Mutter, was ist das?“, schrie Isja. „Das ist das Meer, der Aralsee‘“‘, antwortete sie. Niemals zuvor hatte Isja ein Meer gesehen. Er war aufgeregt, sogar erschreckt. Wasser, Wasser bis zum Horizont. In der Ferne nahm er kleine Inseln wahr. Wie Farbtupfer auf dunkelblauem Grund. Isja konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. Später, bereits im Zug, sagte die Mutter, daß dieses Meer nicht wirklich ein Meer sei, sondern eigentlich ein See, groß wie ein Meer. Ein echtes Meer müsse mit dem Ozean verbunden sein. Damals wußte Isja nicht, daß er in seinem Leben noch viele Meere und Ozeane überqueren und eines Tagen am Deck eines schwankenden Schiffes mitten in einem Taifunsturm eigene Gedichte vortragen sollte: Und wie man Schicksal und Ewigkeit nicht verstehen kann, So, Meer, kann dich keiner verstehen: Wie der Himmel brichst du in die Unendlichkeit auf, Und wie die Erde liegst du uns zu Füßen. Und wieder Züge. Verschmutzte Güterwagen, in denen Menschen am Boden schliefen. Umsteigen. Endloses Warten in Bahnhöfen. In entgegengesetzter Richtung fahren, ohne anzuhalten, Züge mit Rotarmisten, Kampfpanzern, Kanonen. Die Versorgung wurde immer schlechter. In den Bahnhöfen gab es kaum mehr Eßbares zu kaufen. Die Menschen horteten Lebensmittel. Die Flüchtlinge hungerten. Wenn man etwas zu essen auftreiben konnte, gab man alles den Kindern. Manchmal bekam man Nahrung an für die Flüchtlinge eingerichteten Versorgungsstützpunkten. Seit Beginn des Krieges waren Isja und Ljolja immer hungrig gewesen. Die Mutter weinte und verkaufte ihr letztes Hab und Gut, um Brot und Kartoffel zu bezahlen. Häufig schenkten fremde Leute den Kindern Brot oder Süßigkeiten. Einmal bekam Isja ein paar Zuckerln, die er sofort aufessen wollte, aber dann erinnerte er sich, was ihm der Vater beim Abschied gesagt hatte: „Du, Isja, bist jetzt der einzige Mann in der Familie und mußt dich um deine Mutter und deine Schwester kümmern.“ Deshalb brachte er die Zuckerln der Mutter. Wie schwer war es gewesen, sie nicht gleich aufzuessen! Die Mutter teilte die Zuckerln zwischen ihm und Ljolja und lobte ihn. Dann brach sie in Tränen aus. Einmal übernachteten sie auf einem der Bahnhöfe im Wartezimmer für Kinder. Draußen war es kalt, es gab keine Fensterscheiben. Ljolja erkältete sich, hatte Fieber. Bald ging