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Primus-Heinz Kucher Unter den Entwicklungen, welche die deutschsprachige Literatur des letzten Jahrzehnts sichtbar weitergebracht haben, darf das erstaunlich vitale und vielgestaltige Spektrum der literarischen Produktion von ImmigrantInnen einer neuen bzw. zweiten Generation einen festen Platz beanspruchen. Was noch in den 80er Jahren weitgehend unter dem fragwürdigen Schutzschirm der terminologisch umstrittenen „Gastarbeiterliteratur‘‘ daher(und oft wieder dahin-) gesegelt ist, um selten über ein kurzlebiges Aufblitzen aus einem Ghettodasein hinauszugelangen, hat sich seit Harald Weinrichs Plädoyer Um eine deutsche Literatur von außen bittend (1983), ferner seit dem Anreiz des Adelbert von Chamisso-Preises (1985ff.) und seit der erstmaligen Verleihung des Ingeborg Bachmann-Preises an eine Autorin nichtdeutscher Muttersprache — 1991 an Emine Sevgi Özdamar - erfreulich emanzipiert und trägt seit über einem Jahrzehnt nicht unwesentlich zu einem interkulturelltranseuropäischen Erscheinungsbild der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in der Bundesrepublik wie in Österreich bei. Auch in die neuere Kanondiskussion ist dieses Spektrum bereits eingeflossen . Dass dem deutschen PEN-Zentrum von 2000 bis 2002 mit Said ein aus dem Iran stammender Schriftsteller, Exilant und sprachlicher Grenzgänger vorstand, lässt sich u.a. dem gewandelten Bewusstsein zurechnen, dass Migration — wenigstens literarisch und kulturpolitisch gesehen — aufgehört hat, Randthema zu sein und sich zunehmend in einen dynamischen Faktor verwandelt, ohne den die zeitgenössische Literatur eigentlich kaum mehr denkbar ist‘. Nicht zufällig haben in das KLG — das kanonisierende Lexikon der Gegenwartsliteratur schlechthin — schon gut zehn AutorInnen Eingang gefunden, deren Muttersprache nicht das Deutsche ist, deren Schaffen aber untrennbar mit Erfahrungen (der Konfrontation wie der Begegnung) im deutschsprachigen Raum verknüpft sind, AutorInnen, die insbesondere aus dem türkischen und iranischen Raum kommen, aber auch aus Syrien, Italien oder Japan. So unterschiedlich die sprach-ästhetischen und kultur-kontrastiven Konzepte der genannten und weiterer in Frage kommender AutorInnen auch sind, sie verbindet doch ein Phänomen, das moderne Literatur/Kultur längst mitkonturiert und im angelsächsischen und hispanischen Bereich inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist: das Phänomen vielfältiger ‚kultureller Überschreibungen‘ mit der Konsequenz eines ‚nomadischen‘ und 58 Versuch einer Bestandsaufnahme tendenziell experimentellen Sprachgebrauchs . Der in Wien lebende, 1953 in der Tiirkei geborene Schriftsteller Serafettin Yildiz hat dieses Nomadische denn auch in einem Gedicht als Eingangsmotiv formuliert: „Ich, ein abgebrühter Nomade,/erbreche Städte voll Tauben / Derart schnell ist mein Herz...“ 2: In Osterreich hat sich trotz strukturell verwandter Voraussetzungen (Präsenz ausländischer ArbeitnehmerInnen in der Industrie seit den 70er Jahren, Zuwanderungsströme aus Ost-Südosteuropa seit 1989/91, AuslanderInnen- und Asyldebatten etc.) eigentlich erst in den 90er Jahren eine Gruppe von AutorInnen gefunden, die in literarischen Texten ihre Immigrationserfahrungen bzw. damit verbundene Themen bearbeiten und gestalten. Motiviert durch SchriftstellerInnen, die sich ihrerseits für Aspekte des Fremden bzw. des Kultur-Kontrastes interessieren wie z. B. Milo Dor, Barbara Frischmuth (mit ihrem kenntnisreichen Blick auf die tiirkische Kultur, u.a. in ihrem Roman Die Schrift des Freundes; 1998) Erich Hackl, Peter Henisch oder Peter Turrini formierten sich im Umfeld verschiedener Initiativen und wesentlich gefördert durch den 1997 eingerichteten Literaturpreis für „Schreiben zwischen den Kulturen“ ein zunehmend sichtbares Spektrum jüngerer AutorInnen, die sich in die österreichische Literaturlandschaft ein zuschreiben beginnen. Ich denke hierbei in erster Linie an AutorInnen, die — im Unterschied zu den bereits in den 80er Jahren zugewanderten wie Radek Knapp (geb. in Warschau) oder Vladimir Vertlib (geb. in St. Petersburg), welche geradezu selbstverständlich in die österreichische Gegenwartsliteratur hineingewachsen sind — durch die radikalen Umbrüche im ehemaligen Jugoslawien, durch die verstärkten Migrationswellen aus dem Nahen Osten, aber auch aus Afrika nach Österreich als Flüchtlinge gekommen sind sowie an die sogenannte zweite Generation von bereits (weitgehend) in Österreich aufgewachsenen Zuwanderern aus dem türkischen Raum. Aufbereitet haben das Terrain ferner spezifisch österreichische sowie im europäischen Trend liegende Faktoren: zum einen die beachtliche (wie ständig unterschätzte) Produktivität der sprachlichen Minoritäten, v. a. der slowenischen , und damit einhergehend eine Wiederentdeckung von autochtonen ‚kleinen‘ Kulturen (z.B. jene der Roma); zum anderen die Herausforderungen, die im sprach- (und literatur)didaktischen Bereich durch die Immigrations-Realität der späten 90er Jahre einfach nicht mehr zu übersehen waren und in Vorschläge zu einer interkulturell ausgerichteten Didaktik eingeflossen sind. Ende der 90er Jahre erscheinen einige Anthologien, die das immer breiter werdende Spektrum dokumentieren. In erster Linie sind hier die Bände der edition exil zu erwähnen, die einerseits Beiträge der PreisträgerInnen versammeln, aber auch bereits thematisch orientierte oder AutorInnen-Sammelbände aufweisen sowie die Anthologie Die Fremde in mir, die aufgrund ihres Anspruches, d.h. sowohl die traditionellen Volksgruppen als auch die neue Generation der ImmigrantInnen vorzustellen, an die hundert AutorInnen versammelt. Es hat nicht lange gedauert bis das literarische Feuilleton auf diese neuen Entwicklungen aufmerksam geworden ist. Hier war es wiederum Karl Markus Gauß, bekannt u.a. als Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik, der als einer der ersten eine Lanze für diese Gruppe gebrochen hat. In einem programmatisch ausgerichteten Rezensionsessay unter dem Titel Mir san die Kümmel-Österreicher (eine Verszeile aus einem im Wiener Dialekt verfassten Gedicht von Senol Akkilic) sprach er sich vehement für die „Kreolisierung“ der Nationalliteraturen und für mehr bewusste Zwei- oder Mehrsprachigkeit aus und hob zugleich das in der Sammlung Helmuth A. Niederle präsentierte Spektrum in die Salonfähigkeit des bürgerlichen Literatur- und Lesebetriebs . Sein Appell spricht überdies ei