OCR
Reflexion der Fragen, mit denen die AutorInnen täglich konfrontiert sind. Der verein exil verbindet ein Literaturprojekt mit einem interkulturellen Projekt, was immerhin ermöglicht, daß deutlich höhere Preisgelder zur Verfügung stehen, als dies bei einem reinen Literaturprojekt der Fall wäre. Die Preisgelder für den Literaturpreis werden von fünf verschiedenen Einrichtungen zur Verfügung gestellt, von denen nur zwei Kulturprojekte ohne thematische Festlegung unterstützen: Von der Abteilung für Kunstangelegenheiten des Bundeskanzleramtes erhält der verein exil eine Jahressubvention für literarische Aktivitäten, durch welche unter anderem der erste Preis und ein Großteil des Organisationsaufwandes abgedeckt werden kann, und die Kulturkommission des 7. Bezirks stellt die Gelder für den Lyrikpreis zur Verfügung. Alle anderen Stellen gewähren ihre Unterstützung aufgrund des interkulturellen Aspektes des Literaturpreises. So fördert etwa der Wiener Integrationsfonds Projekte, die sich „um das Zusammenleben der einheimischen und zugewanderten Bevölkerung bemühlen]“”. Auch die Kulturabteilung der Stadt Wien (Magistratsabteilung 7) unterstützt interkulturelle Aktivitäten, die „das Zusammenleben von verschiedenen Bevölkerungsgruppen und deren kulturellef...] Aktivitäten [...] fördern“, und die Grazer AutorInnenversammlung entnimmt die Preisgelder ihrem ‚Exilfonds“*. Dass die PreisträgerInnen durch den Literaturpreis von einigen Seiten als ,MigrationsautorInnen‘ schubladisiert werden, kann natürlich nicht ausgeschlossen werden: [M]Jich als ‚die südkoreanische Autorin‘ zu bezeichnen (passiert mir andauernd — langsam frage ich mich, ob eigentlich jemand den Text verstanden hat), stimmt einfach nicht, da ich mich nicht als solche sehe und fühle”, bemerkt etwa die in Südkorea geborene und in Deutschland und Österreich aufgewachsene Autorin Anna Kim. Sie hat das Umfeld des vereins exil daher nie gesucht und diesen Kontakt nicht gepflegt, sondern fand andere Wege, ihre Arbeiten zu veröffentlichen.” Dimitre Dinev sieht in der Frage, welcher AutorInnengruppe er zugeordnet wird, kein großes Problem. ‚In ein Eck drängen‘, das machen immer so - sagen wir — beschränkte Literaturkritiker.” Interessanter und „amüsanter“ findet er es, wenn man sich mit der Aufgabe, ihn in eine Kategorie einzuordnen, wirklich auseinandersetzt. So schreibt etwa Peter Stuiber in der Tageszeitung „Die Presse“ vorsichtig: „Österreich kann sich über einen neuen großen Erzähler freuen — und der kommt aus Bulgarien“, und findet fiir ihn die treffende Bezeichnung „West-östlicher Dinev“.’* Leben ‚zwischen den kulturen‘ Schon ein kurzer Einblick in die Biographien der AutorInnen macht deutlich, dass es simplifizierend wäre, ‚zwischen den kulturen‘ lediglich als die — im verbreiteten Bild vom ‚Seiltanz‘ implizierte — Position zwischen zwei 64 Kulturen, nämlich einer Herkunfts- und einer Aufnahmekultur, zu verstehen. In welch komplexen kulturellen Konstellationen einige PreisträgerInnen leben und schreiben, soll im Folgenden skizziert werden. Ein Beispiel für ein Leben zwischen mehreren religiösen und ethnischen Gruppen ist Alma Hadzibeganovic. Im Interview erklärt sie die Bedeutung ihres Familiennamens: „Hadzi“ bedeutet, dass einer ihrer Vorfahren eine Hadz (Wallfahrt nach Mekka) gemacht hat, weist also auf die muslimische Tradition der Familie hin. Ihre Großmutter hat sie hingegen gelehrt, „die Madonna und Kathedralen zu ehren und keine Brösel zu essen“. Gerade dieses selbstverständliche Zusammenleben unterschiedlicher kultureller Gruppen schätzte sie an der Stadt Sarajevo: Du kannst gleichzeitig mit dem Muezzin die Kirchenglocken läuten hören. Ich habe neben einem jüdischen Friedhof gewohnt. Es ist einfach eine orientalisch-europäische Stadt.” Als Tochter eines Muslims und einer Serbin musste sie mit ihrer Familie jedoch 1992 vor dem Krieg nach Wien flüchten. Das Land, das sie damals verlassen hat, existiert mittlerweile nicht mehr, was für Alma Hadzibeganovic nicht leicht zu akzeptieren war: Als wir herangewachsen sind, war es die größte Beleidigung, als die Mächte der Finsternis aus dem Ausland behaupteten, unser Land sei eine künstliche Schöpfung. Als wir erwachsen waren, war es die größte Beleidigung, begreifen zu müssen, daß es stimmte." Inzwischen fühlt sie sich wohl, „egal wo [sie ist]‘“” und sieht sich selbst als EU-Europäerin. Das Spannungsfeld, in dem sich Youngsook Kim bewegt, ist hingegen nicht so sehr religiös als von unterschiedlichen Generationen bestimmt. Wie die meisten koreanischen Frauen erlebte sie ihre Situation in Korea als gleichzeitig von Traditionalismus und Modernisierung geprägt. Sie veranschaulicht dies am Beispiel des großen Ahnenfestes, bei dem die Frauen traditionell erst nach den Männern den Raum betreten dürfen: Die Frauen sind bei uns starke Persönlichkeiten. Aber bei solchen Festen wahren sie den Schein und spielen ihre traditionelle Rolle. [...] In meiner Generation sind fast alle Frauen berufstätig, und doch wird dieser Schein meist auch weiterhin gepflegt. Natürlich kommt es auch zu Konflikten, weil sich die jungen Frauen dagegen wehren, diese Doppelrolle zu spielen [... ], obwohl das die Schwiegereltern verlangen.” Durch ihr Studium in Österreich lernte sie ein anderes Konzept der Beziehungen zwischen Männern und Frauen kennen, wodurch der schon vorher bestehende Rollenkonflikt für sie noch spürbarer wurde. Sofija Jovanovic ist im Zwiespalt zwischen ihrem Elternhaus in Belgrad und dem Leben auf dem Land bei ihrer Großmutter, einer Romni, aufgewachsen. Als ich sieben Jahre alt war, mußte ich nach serbischem Gesetz zur Schule gehen. Ich habe kein Wort Serbisch gesprochen. Ich konnte nur Romanes. Ich wußte nicht einmal, daß mein Name Sofija war“ Als sie später zu ihrer Familie nach Belgrad zurückkehren musste, hatte sie große Schwierigkeiten, sich an das Stadtleben zu gewöhnen. Umgekehrt stellte sich die Situation fiir MiSo Nikolié dar, den Sohn eines Rom und einer Romni. Nachdem die Familie in seiner Kindheit von Ort zu Ort gezogen war, wurde sie nach dem Krieg in Belgrad sesshaft: Wir Kinder waren so überglücklich, daß wir sogar den roten Beton der Veranda geküßt haben.” Mittlerweile lebt er mit seiner Familie seit über dreißig Jahren in Wien und schreibt vor allem Lieder, aber auch Erzählungen und Theaterstücke. Sein prämierter Text ist ein Auszug aus seinem später veröffentlichten Roman „,... und dann zogen wir weiter“, der im Roman „Landfahrer. Auf den Wegen eines Rom“ seine Fortsetzung fand. Anna Kims Position zwischen den Kulturen unterscheidet sie von den bisher besprochenen AutorInnen darin, dass sie an Südkorea, das Land, in dem sie geboren ist und das sie mit zwei Jahren verlassen hat, kaum Erinnerungen hat. Sie ist zweisprachig aufgewachsen, sieht aber in der Sprache beinahe ihre einzige Verbindung zu Korea: Der kulturelle Unterschied war für mich also nicht nur primär, sondern prinzipiell ein sprachlicher, nicht zuletzt auch durch den katholischen, nicht buddhistischen Glauben meiner Eltern.“ Dass sie sich ihrer Herkunft dennoch ständig bewusst ist, liegt an ihrem Äußeren, aufgrund dessen ihr immer wieder eine „asiatische Identität“ zugeschrieben wird - im Widerspruch zu ihrem eigenen Empfinden. Simone Schönett hingegen hat erst nach und nach von der jenischen Herkunft ihrer Mutter erfahren. Traumatisiert durch die Verfolgung als ‚Asoziale‘ im Dritten Reich (die Jenischen galten im Gegensatz zu den Roma nicht als ‚fremdrassig‘) verheimlichen vor allem ältere Jenische ihre Herkunft. Auch mir wurde ja auf meine Fragen gesagt, dass ich niemandem etwas sagen darf, und schon gar nicht dem Papa! Und er hat wirklich nie erfahren, dass er mit einer Jenischen verheiratet war!” Simone Schönett spricht daher von einer „gespaltene[n] Identität‘, mit der umzugehen sie lernen musste. Überlegungen zur Mehrsprachigkeit Die Entscheidung, auf Deutsch oder/und in einer anderen Sprache zu schreiben, hängt für diese AutorInnen unter anderem davon ab, wie ausdrucksfähig sie sich in den jeweiligen Sprachen fühlen, in welcher Sprache sie zu schreiben begonnen haben und welche Literatur sie bewundern; auch politische Überlegungen spielen eine Rolle. Einige AutorInnen schreiben in ihrer Muttersprache, weil ihnen die sprachlichen Mittel im Deutschen (noch) fehlen. Zu ihnen gehört Denis Mikan aus Bosnien: Ich bin der Meinung, daß wir uns nur durch unseren Intellekt, der eine bestimmte künstlerische, das heißt poetische Form benützt, um sein Wissen zu verarbeiten und darzustellen, der Wahrheit