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Ljubomir Bratic Das Dilemma der VerteidigerInnen des Multikulturalismus und seines politischen Instrumentariums, der Identitätspolitik, liegt in der Tatsache, dass ihre politischen Handlungen in einer Inkohärenz wurzeln. Es gibt universale Rechte wie das Recht auf Bildung für alle, das Recht auf eine menschenwürdige Unterkunft usw., die nicht nur einzelne Gruppen beanspruchen können. Diese ergeben nur dann einen Sinn und können nur verwirklicht werden, indem sie für alle gelten und von allen gefordert werden. Wir kommen nicht umhin, uns auf eine Art Universalität zu berufen. Die MultikulturalistInnen transponieren den Rechtsanspruch auf Differenz von einer partikulären auf eine universelle Ebene. Diese Universalisierung des Rechtes auf Differenz steht hinter ihrem Engagement für Gesetzesveränderungen, für Antidiskriminierungsmaßnahmen, für affirmative Aktionen usw. In ihrem Engagement gehen die MultikulturalistInnen von einer Voraussetzng aus, nämlich der, dass die institutionelle Ordnung, in die sie eingebettet sind, transformierbar sei. Zugleich jedoch behaupten sie, dass diese institutionelle Ordnung die Schöpfung einer bestimmten Gruppe sei und sie mit der bisherigen Tradition nichts am Hut hätten. Somit verbleibt ihr soziales Anliegen im Bereich der Partikulturalität. Alle anderen universellen Forderungen nach dem Recht für alle anderen politischen Subjekte werden dadurch als partikuläre Forderungen abgestuft. Insofern ist auch das System nicht veränderbar, sondern nur mittels Machtpolitik zu erobern, d.h., letzten Endes gründet jede Vorherrschaft einer Gruppe auf der Ausschließung der anderen. Wenn wir nur im Kampf um partikuläre Rechte uns stets unserer Position bewusst sind, und wenn wir diese unsere Position als alleine essenziell begreifen, dann gibt es nur eins, das uns definiert, und das ist die Frontlinie. Eine Konzeption von Orten der Gewalt, der Grenzen, wird hier zu einer universellen Konstante, zur Quelle jeglichen Selbstverständnisses, des Subjektes, erhoben. Es handelt sich dabei um eine Welt, in der ich selber nicht leben möchte, auch wenn ich von der Unvermeidlichkeit der Konflikte, um die Anerkennung der Differenz zu erreichen, überzeugt bin. Die MultikulturalistInnen berauben sich mit dieser Taktik, alles zu partikularisieren, auch einer wesentlichen politischen und strategischen Vorgangsweise innerhalb der bestehenden staatlichen Gebilde. Sie können nicht glaubwürdig auf die Diskrepanz zwischen den propagierten Idealen und der realen Praxis, eine der wesentlichen Strategien des sozialen Kampfes, hinweisen. Wenn die MigrantInnen als Bestandteil des österreichischen Staates das Wahlrecht für alle fordern, dann beziehen sie sich nicht auf einen Bereich der Menschen- und Bürgerrechte, die nur einem partikulären Bereich zuzuschreiben wären, sondern auf die Universalität dieser Rechte, die durch die historischen Entwicklungen nur auf eine bestimmte Gruppe, die der StaatsbürgerInnen, beschränkt sind. Wollen die VerfechterInnen der Demokratie weiter auf der Universalität bestehen, dann müssen sie zugeben, dass es Lücken und Ungereimtheiten zwischen dem Anspruch einerseits und der Realisierung andererseits gibt. Diese Risse sind die Orte des Kampfes, die zu einer demokratischen Entwicklung der Staaten beigetragen haben. So haben sich die Arbeiterklasse, die Frauen und viele „autochthone Minderheiten“ ein Wahlrecht erobert. Nichts spricht dagegen, diesen Prozess fortzusetzen. Ein Ziel vieler antirassistischer AktivistInnen ist die Arbeit an der Möglichkeit einer permanenten Intervention innerhalb der bestehenden Demokratiedefizite. Die Interventionen haben als Ziel die Erweiterung und Ausdehnung der für die anderen Gruppen innerhalb des Staatsgebildes geltenden Rechte, in diesem Fall auf die MigrantInnen. Das war die Diskussion, deren Fortsetzung ich mir in dem Buch von Gottfried Sperl und Michael Steiner erwartet habe. Sie kamen meinem Interesse eigentlich in einer ganz anderen Richtung entgegen. Getarnt hinter der Problematik des Multikulturalismus besteht diese Textsammlung aus einer Reihe von Vorschlägen, die multikulturelle Gesellschaft (die als Voraussetzung fungiert) normativ zu ummanteln. Es ist eine „gut konsumierbare Präsentation“, wie Sperl betont, allerdings nicht über die Kulturen und Identitäten, sondern über eine Kultur und eine Identität und deren Rechtfertigungen der Regulierungstechniken auf dem diskursiven Terrain Multikulturalismus. Am Anfang steht der Text von Kurt Wimmer. Seiner Meinung nach ist die „kulturelle Vielfalt eine zentrale politische Herausforderung der Gegenwart“. Bei dieser Textsammlung handelt es sich um politische Texte — dem stimme ich ihm zu. Daß dies jedoch etwas mit „Vielfalt“ zu tun hat, bezweifle ich, solange kein einziger Beitrag die Vielfalt, in deren Namen geredet wird, zu konkretisieren vermag. Wimmer versteht unter Vielfalt das, was gefährlich sein kann. Die Gefahr ist gekennzeichnet durch den Verlust der Sicherheit. In diesem Sinne soll ein Wertekatalog erstellt werden. Die Werte der „Toleranz“ und des „Dialogs“ scheinen dabei genauso wichtig zu sein wie die verfassungsmäßige Grundlage. Dass die derzeitige österreichische Bundesverfassung in $ 12 z.B. die Gleichheit der StaatsbürgerInnen garantiert und die anderen, die zehn Prozent MigrantInnen, ausschließt, wird hier großzügig übersehen. Der aufschlussreichste Artikel über die Form der heutigen Politik ist in dem Bändchen sicher der von Maria Vassilakou, einer Migrantin und grünen Stadträtin in Wien. Sie beschäftigt sich mit den „Schattenseiten und Chancen der multikulturellen Stadt“. Dabei trennt sie einen positiven von einem negativen Multikulturalismus. Den negativen sieht sie als „ethnische Zuweisung von Reichtum und Chancen“, Der positive dagegen muss „zumindest die Chancen auf Erfolg über ethnische und kulturellen Grenzen“ hinweg verstehen. Sie selbst scheint die Verfechterin der zweiten Version zu sein, und dabei nennt sie „leben und leben lassen“ als ihre wesentliche Maxime. So weit so schlecht. Das Problem beginnt dort, wo die Aufgaben der PolitikerInnen aufgelistet werden. Ab da stellt sich heraus, dass Vassilakou einer Wiener Tradition des Paternalismus und der Lenkungspolitik gegenüber positiv eingestellt ist. Da die klassischen segregierten Communities einen „sozialen Sprengstoff“ beinhalten, beabsichtigt Vassilakou Nachhilfe bei der Entstehung von neuen Communities zu leisten und unkonventionelle Lebensführung zu unterstützen. Dafür — bei der Steuerung der Communities — ist sie auch bereit, finanzielle Hilfe zu gewähren. So verwandelt sich der Multikulturalismus über den Weg des Liberalismus in einen Paternalismus. Und so werden die postmodern anmutenden „Schwulen und Lesben“ gegen die autoritären Modernitätsverweigerer „Türken“ oder „Serben“ in Stellung gebracht. Martin G. Wanko setzt die Überlegungen über die Kultur fort, indem er die „kulturelle Hemmschwelle“, ein unglückseliges Konstrukt von Max Weber, ursprünglich bezogen auf die polnischen Wanderarbeiter in Deutschland, unterstreicht. Hier wird auch die oben erwähnte Werteskala erweitert, nämlich um den Begriff des „Respekts“. Das Resümee seines Textes lautet dann: „Wir müssen uns also auf das Fremde einlassen, um es zu überwinden.“ Das lässt sich auf zweifache Weise bezweifeln. Erstens, weil Sich-Einlassen auf etwas das Gegenteil von Überwindung darstellt. Es bedeutet die Bestätigung dessen und im Fall des Multikulturalismus auch die Schöpfung der „Fremden und Anderen“. Zweitens, weil wir das Sich-Einlassen auf die Fremden schon mehrere hundert Jahre lang in Form von Kolonialismus erleben und dieser Prozess trotz gegenteiliger Beteuerungen auch heute brutal aktuell ist. Die besagte Werteskala erweitert auch Michael Steiner in seinem Streifzug durch die deutsche links- und rechtsliberale Medienlandschaft. Für ihn ist eine „regelgeleitete Gleichgültigkeit‘‘ die Lösung der Gefahren im Multikulturalismus. Leider befinden wir uns nicht in einem Therapieseminar, sondern innerhalb einer durch Machtbeziehungen gekennzeichneten Gesellschaft, und hier kann 67