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sich die Gleichgültigkeit nicht jeder leisten. Das verschweigt der Autor. Zu Franz Küberls Artikel lässt sich nur sagen, dass die „armen Menschen aus entwickelten Ländern“ während des 18., 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur wanderten und besiedelten, sondern auch kolonialisierten. Das ist eben auch die Hauptursache der Migration in Richtung kapitalistisches Zentrum. „Wir sind hier weil ihr dort wart“, ist die Parole, über die wir, besonders aber die katholische, auf Mission gerichtete Kirche, heutzutage nachdenken müssen. Es kann sein, dass unsere Kinder und Kindeskinder durch die Armen dieser Welt, wie Küberl behauptet, eines Tages „erdrückt“ werden. Bloß ist das, was für „uns“ eine Gefahr darstellt, für die Armen ein Ausweg aus Herrschaftsverhältnissen, denen sie unterworfen sind. Und diese „Armen“ bekommen in diesem Buch nicht die Möglichkeit, selber für sich zu sprechen. Für sie sprechen wie üblich die HelferInnen und StellvertreterInnen. Einzig der Beitrag von Marjan Sturm, mit einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Problematik des Nationalstaates und den von diesem produzierten sogenannten Minderheiten, entspricht meinen Erwartungen. Ein Beitrag, der nicht die Techniken der Normierung perforiert, sondern die Bedingungen ihres Fortbestehens innerhalb des Nationalstaates reflektiert. Eine fundierte Auseinandersetzung. Absolut lesenswert, auch wenn ich mit einigen Punkte nicht einverstanden bin. Dies ist auch der einzige Beitrag in der Sammlung, wo der Autor nicht aus einer normgebenden, sondern aus einer normhinterfragenden Position heraus seine Argumentation entfaltet. Insgesamt lässt sich sagen, dass dieses Buch eine Lektüre für die liberale Mittelschicht darstelltt. Für diese Gruppe empfehlenswert. Allerdings für alle anderen, die auch Bestandteil dieser Gesellschaft sind, nutzlos. Es sei denn, sie wollen in Erfahrung bringen, wie die Mittelklasse heute diskursiv ihre Macht festigt. Abschließend möchte ich bezüglich des MultiKulti-Phänomens Boris Buden zitieren: „Weder das Volk noch die Arbeiterklasse, weder das weibliche Geschlecht noch die unterdrückte und ausgebeutete Dritte Welt Können an sich ein stabiles und einheitliches politisches Anliegen (causa) bilden. Sie sind nicht in einem ursprünglichen Sinn im voraus gegeben, sondern werden erst in den Diskursen des Nationalismus, des Marxismus, des Feminismus etc. konstruiert. Erst im Rahmen ihrer diskursiven Ausrichtungen und in einer historischen Spannung und Überschneidung mit anderen Zielsetzungen können sie progressiv oder reaktionär, bürgerlich oder radikal werden.“ Gerfried Sperl, Michael Steiner (Hg.): Heimat Babylon. Multikulturalität heute. Wiener Neustadt: Edition Gutenberg in der Steirischen Verlagsgesellschaft 2003. 112 S. Euro 14,90/SFr 25,40 68 Berichte „Michael GuttenbrunnerDisputationes“ Am 3. und 4. Mai 2005 veranstaltete die Osterreichische Gesellschaft fiir Literatur (OGL), Wien, ein Kolloquium iiber Michael Guttenbrunner, an dem dieser selbst teilnahm und am Abend des ersten Tages auch aus seinem Zyklus „Im Machtgehege“ las. Manfred Müller bereitete die Veranstaltung vor; Marianne Gruber, Präsidentin der ÖGL, sprach zur Eröffnung. Klaus Amann (Robert-Musil-Forschungsinstitut, Klagenfurt, wo sich ein sogenannter Vorlaß Guttenbrunners befindet) verglich Guttenbrunner mit dem Schweizer Autor Ludwig Hohl, beleuchtete Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Dichter. Hohl allerdings zeigte sich in direkterer Weise an philosophischen Fragen orientiert. Für beide jedoch gelte, daß das „Erkennen ... an den Rändern, von der Peripherie“ ansetze. (Hohl, von dem Guttenbrunner Texte in seiner Zeitschrift „Ziegeneuter“ brachte, plante ein Werk mit dem Titel ,,Von den hereinbrechenden Rändern“). Obwohl es Guttenbrunner, wie Amann meinte, „nicht um Aktualität“ ging, seier doch als ein politischer Dichter anzusehen, als einer, der sich „zuständig“ fühlt, nach dem selbstgewählten Motto: „Wo alle schweigen, schweige ich nicht.“ Eckart Früh, kundiger Verwalter des legendären „Tagblatt-Archivs‘“ der Wiener Arbeiterkammer (das sich jetzt in der Wiener Stadtund Landesbibliothek befindet), sprach über Guttenbrunners Freund Johann David Sauerländer, den Rechtsgelehrten, der das Wort vom „Nationalbestialismus“ (statt Nationalsozialismus) prägte. „... Rechtsstumpfheit“, so Sauerländer, „ist das sozialethische Hauptmerkmal der Deutschen ...“ Sie fängt mit einer Sprache an, die verwischt, was sie fassen sollte, und gefällt sich in einem Richten, das nicht urteilen will. (Ich hielt dies bisher für schlechtes österreichisches Erbe.) Sauerländer, leidenschaftlicher Gegner der Nazis, wurde 1939 aus seinem Richteramt entfernt, blieb aber sonst glücklicherweise ungeschoren. In seinem gehaltreichen Vortrag formulierte Christian Teissl fünf Thesen zu Michael Guttenbrunner, fünf Grundprobleme seines Schreibens: Vergegenwärtigung des Vergangenen; Verschränkung von Schönheit und Greuel; „heilsame Übermacht“ der Sprache; ethischmoralische Entschiedenheit; Verweigerung und Öffnung im Sprechen. Mit diesen Thesen reflektierte Teissl zugleich Grundfragen des Schreibens nach dem Nationalsozialismus. Über Guttenbrunners Beziehung zu Griechenland und den Griechen sprach Daniela Strigl, selbst mit der griechischen Literatur und Landschaft gut vertraut. Paradigmatisch für Guttenbrunners Griechenland-Bild ist einerseits die Erfahrung der Vergewaltigung des kargen, schönen Landes, die deutsche Invasion Kretas im Mai 1940. Andererseits bewundert Guttenbrunner den freien, sein Zentrum in sich selbst tragenden, seine Würde auch unter demütigenden Umständen wahrenden Griechen. „Armut beschämt ihn nicht.“ Den Himmel Griechenlands ruft Guttenbrunner in seinen Gedichten an. Unter den großen griechischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts ist es der wiederholt eingekerkerte Jannis Ritsos, dem sich Guttenbrunner besonders nahe fühlt. Für Ritsos war es auf griechischem Boden leichter möglich, „Klassizität und Modernität“ zu verbinden. Guttenbrunners Stellungnahmen zu anderen Autoren und Autorinnen der Gegenwart ging Hans Sonnleitner nach. In den kurzen Prosastücken der acht Bände „Im Machtgehege“ finden sich immer wieder scharfe Charakteristiken, so von Thomas Bernhard und Friederike Mayröcker, auch Bemerkungen zu einzelnen Äüßerungen oder Handlungen anderer, u.a. von Elfriede Jelinek. Sonnleitner bemühte sich, diese Stellen zu entschlüsseln. Interessant war das Unternehmen Antonio Fians, Elfriede Gerstl und Michael Guttenbrunner zu vergleichen, die beide, aus ganz verschiedenen Gründen, in der NS-Zeit Verfolgungen ausgesetzt waren. Für Fian sind sie einander zwar nicht in den Traditionen, auf die sie sich beziehen, aber in ihrer operativen Schreibhaltung, in ihrem Verhältnis zum Nachkriegsösterreich, in der aus dem Wissen um die historische Diskontinuität, die Bruchhaftigkeit des Weltzustandes entspringenden Bevorzugung kleiner Formen näher, als sie es selber wahrhaben möchten. Das abschließende, von Daniela Strig moderierte Podiumsgespräch mit Walter Fanta, Antonio Fian und Konstantin Kaiser verlief überraschend lebhaft, ohne allerdings allzu kontroversiell zu werden. Denn hier waren Leute unter sich, die das Werk und die Person Guttenbrunners schätzen und respektieren; nur die Motive ihrer Hochachtung und die Idiome, in der sie sie ausdrückten, unterschieden sich. Der ästhetisch normative Gebrauch der Klassifikation „modern“ (ohne Reflexion der Begriffsgeschichte und der in der „Moderne“ wirkenden Widersprüche) erwies sich einmal mehr als ein gewisses Verständigungshindernis. Mit der Frage konfrontiert, warum er an der Literaturkritik oft so gar kein gutes Haar lasse, erläuterte Michael Guttenbrunner in wohlgesetzten Worten, daß es hier weniger um die Zustimmung oder die Ablehnung ging, die seine Bücher erfahren hatten, als um einen Mangel an Korrektur, Offenheit, Orientierung, unter dem er vor allem als junger Autor gelitten habe. Mit anderen Worten: Ihm wäre es weniger um literarisches Geschmäcklertum als um produktiven Zuspruch zu tun gewesen. Hoffentlich kommt es zu einer Veröffentlichung der Vorträge; sie waren alle bereits ziemlich ausgefeilt und — wie es schien — eigentlich druckfertig. K.K.