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Aberkannte Doktorate Am 31. März 2004 fand an der Universität Wien eine Gedenkveranstaltung statt: 32 Personen, denen unterm Nationalsozialismus ihr Doktoratstitel aberkannt worden war, erhielten mit dieser symbolischen Geste posthum eine Wiedergutmachung. Viel zu spät natürlich, denn schon der Fall des Dritten Reiches selbst war mittlerweile knapp 60 Jahre her — genügend Zeit für Korrekturen, könnte man meinen. Aber in den post-nationalsozialistischen Ländern setzt sich die Gerechtigkeit besonders langsam und manchmal auch gar nie durch. Dass es überhaupt so weit gekommen war, verdankt sich einem berühmten Namen. Als vor einigen Jahren der Salzburger Historiker Gert Kerschbaumer eine eher formelle Anfrage an das Archiv der Universität stellte, wann dem Absolventen der Universität und später weltbekannten Schriftsteller Stefan Zweig der Doktoratstitel wieder anerkannt wurde, war die Aufregung groß. Denn die Promotionsprotokolle zeigten zwar deutlich, dass Zweig 1940 der Titel aberkannt wurde. Aber ein Eintrag zur Wiederanerkennung fand sich dort nicht. Für eine Universität, die derart viel auf ihre Geschichte und den Ruhm ihrer AbsolventInnen hält, ein unhaltbarer Zustand. Also wurde im Universitätsarchiv recherchiert. Zum genaueren Verständnis ist es notwendig, kurz die Geschichte der Wiederanerkennung bzw. genauer: der Nichtigerklärung der Aberkennung von Doktoratstiteln an der Universität Wien nach 1945 zu beleuchten.' Unter dem ersten Rektor der Nachkriegszeit, Ludwig Adamovich, wurde eine Liste von 195 Personen erhoben, „die infolge Aberkennung der Staatsbürgerschaft den akademischen Grad verloren haben“. In einer Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom Juli 1945 über „Erwerb, die Führung und den Verlust inländischer akademischer Grade“ wurde in $ 4 festgehalten: Personen, denen ein akademischer Grad in der Zeit vom 13. März 1938 bis zur Befreiung Österreichs aus ausschließlich politischen Gründen aberkannt wurde, kann die Hochschule, die diesen Grad verliehen hatte, den akademischen Grad rückwirkend vom Tage der Aberkennung ohne weitere Voraussetzung neuerlich verleihen. In den folgenden Jahren wurde eine Reihe von Anträgen auf Nichtigerklärung der Aberkennung von Betroffenen behandelt und diesensofern sie den Kriterien entsprachen — auch stattgegeben. Eine generelle Wiederanerkennung seitens der Universität wurde zwar gelegentlich überlegt, erfolgte aber erst zehn Jahre später. Der entsprechende Beschluss wurde am 30. April 1955 vom Akademischen Senat der Universität Wien gefasst und ist symptomatisch für den Umgang verantwortlicher Stellen mit der jüngsten Vergangenheit. Er weist die üblichen zwei Merkmale in der Behandlung der Opfer des Nationalsozialismus auf — die Semantik der Halbherzigkeit und die dazu komplementäre Haltung der Unverfrorenheit. Die Semantik der Halbherzigkeit kommt schon im Verordnungstext von 1945 zum Ausdruck: Die Hochschule „kann“ den betroffenen Personen „den akademischen Grad rückwirkend (...) neuerlich verleihen“. So viel zum politischen Unwillen, klare Richtlinien vorzugeben. Die Universitätsgewaltigen hielten sich daran. Nachdem sie zehn Jahre gebraucht hatten, das Thema von sich aus anzugehen, die Modalverbkonstruktion der Verordnung also nicht passiv, sondern aktiv aufzufassen, ließen sie sich auf nicht zu viele Umstände ein. Im Antrag, nach dem der Beschluss auf kollektive Wiederanerkennung gefasst wurde, heißt es, jenen Personen, ... die in der Liste des Rektoratsaktes GZ 561 aus 1944/45 aufscheinen und denen der Doktorgrad ausschließlich aus politischen Gründen aberkannt wurde, den akademischen Grad rückwirkend vom Tage der Aberkennung wiederzuverleihen und zwar in der Form, daß die Pedellenkanzlei über den Auftrag des Rektorates diesen Vermerk in den Promotionsprotokollen sogleich anbringt, aber eine Verständigung an die Betreffenden zu unterbleiben hat. Darin steckt nun auch ein gerütteltes Maß an Unverfrorenheit, das für solch eine halbherzige Konstruktion notwendig scheint. Erstens, eine Verständigung hat zu unterbleiben, denn man könnte in Kontakt mit Opfern treten, oder vielleicht noch schlimmer, es könnten sich Personen finden, die eine Wiederanerkennung von sich aus ablehnen — ganz abgesehen von der „Mühe“, die das Auffinden von insgesamt 181 Personen nach Kriegswirren vielleicht bereitet hätte. Zweitens, es wurde nicht etwa die neuerliche Untersuchung der genauen Zahl von Aberkennungen aus politischen Gründen angeordnet, sondern auf die unmittelbar nach Kriegsende erstellte, mittlerweile zehn Jahre alte Liste zurückgegriffen. Drittens, auch zehn Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus bleibt die hochproblematische Trennung von Betroffenen aus „politischen“ und aus „strafrechtlichen“ Gründen aufrecht. Natürlich wäre es blind, hier mit dem Verweis auf den zeitlichen Abstand mehr moralische Integrität zu verlangen. Im Gegenteil hat sich die Halbherzigkeit und die Unverfrorenheit im Umgang mit den Opfern des NS gerade unter der Gruppe WissenschaftlerInnen in den ersten zwei Jahrzehnten der Zweiten Republik ständig gesteigert. Wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen haben längst belegt, dass die österreichische Wissenschaftslandschaft nach 1945 in einen Zustand „autochthoner Provinzialisierung‘” verfallen war. Damit ist — nicht zuletzt durch die eigentümliche wissenschaftspolitische Dynamik im post-nationalsozialistischen Gedrängel um Posten und Ressourcen — auch der Umstand „der moralischen Devastierung der Bezugsgruppe“ gemeint.’ Diese moralische Devastierung ist der Hintergrund für die drei oben erwähnten „Unverfrorenheiten“: die willkürliche Eingrenzung der Opfergruppe auf jene, denen der akademische Titel aus „rassischen“ und (meistens ist das gleichgesetzt) politischen Gründen aberkannt wurde, der bequeme Rückgriff auf eine veraltete und mangelhafte Personenliste, und die Weigerung, mit den betroffenen Personen in Kontakt zu treten. Die Vorgeschichte der Gedenkveranstaltung dieses Jahres und der ihr zugrundeliegenden gesellschaftlichen Komponenten ist deshalb so bedeutend, weil die Versuche, sich möglichst ohne allzu viel Einsatz der Gruppe von NSOpfern als Problemfälle zu „entledigen“, eine paradoxe Situation erst geschaffen haben, die sonst — 60 bzw. 50 Jahre danach! — medial niemals so präsent und so anachronistisch zugleich gewesen wäre. Zugleich ist dieses Paradoxon symptomatisch für die ganze Geschichte der halbherzigen Aufarbeitung und bequemunverfrorenen Verdrängung des Nationalsozialismus in Österreich. Bis zu der Anfrage des Historikers Kerschbaumer glaubte man sich sicher, der Gerechtigkeit bereits vor langer Zeit Genüge getan zu haben. Nach der Aufregung um die Nichtwiederanerkennung des Doktoratstitels an Stefan Zweig wird 2003 im Universitätsarchiv die Kopie eines bis dahin unbekannten Aberkennungsaktes von 1939/40 gefunden, der bislang (das heißt 1945-1955) nicht berücksichtigt worden ist. In diesem Akt finden sich 32 Namen, darunter die von Stefan Zweig und anderer nicht ganz Unbekannter wie Bruno Bettelheim und Albert Fuchs. In einem wissenschaftspraktischen Experiment schließlich hat die historische Aufarbeitung gemündet: eine Studierendengruppe um die beiden Historiker Friedrich Stadler und Herbert Posch recherchierte im Rahmen eines zeitgeschichtlichen Seminars die 32 Biographien. Die Ergebnisse konnten bei der Gedenkveranstaltung vorgestellt werden, und es ist zu hoffen, dass es zu einer adäquaten Publikation kommt. Vor allem aber ist zu hoffen, dass es endlich zu einer dem Gegenstand angemessenen Untersuchung kommt. Das nämlich ist das Paradoxon an der Geschichte: Sie ist noch lange nicht zu Ende, sie hat gerade erst begonnen. In dem 2003 gefundenen Akt mit 32 Namensnennungen sind die ersten 26, wie bisher, Aberkennungen aus „rassischen“ und/oder politischen Gründen. In der juristischen Terminologie des Post-Nationalsozialismus handelte es sich dabei um Personen, denen das Doktorat nach 1938 aberkannt wurde, weil sie jüdisch waren. In den vorliegenden Fällen war das im Zuge der Aberkennung der Staatsbürgerschaft geschehen. Alle in Österreich nach 1945 von Seiten der Universität Wien (und höchstwahrscheinlich auch aller anderen Hochschulen) auf eigene Initiative hin für nichtig erklärten Doktoratsaberkennungen bezogen sich auf diese Opfergruppe. Ein straf69