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rechtlich Verurteilter dagegen galt stets als jemand, der zu Recht verurteilt war, und dem daher - nach damals geltender Rechtslage — der Doktoratstitel abzuerkennen war. Die letzten sechs Namen auf der Liste sind solche Fälle. In einzelnen Fällen gab es Versuche von Seiten der Opfer, diese Aberkennung nach 1945 annullieren zu lassen; von Seiten der Universitäten gab es keine derartige Vorhaben. Eine in den frühen 1970er Jahren infolge geänderter Rechtslage vom zuständigen Ministerium angeforderte Liste aller Aberkennungen wurde zumindest von der Universität Wien (nach derzeitiger Quellenlage) nicht beantwortet. Das bedeutet, dass bisher die Zahl derer, denen das Doktorat wegen anderen als ,,rassischen“ und politischen Griinden aberkannt wurde, nicht bekannt ist. All das ware nicht sonderlich schlimm, wenn die 60 Jahre lang beibehaltene Rechtsauffassung in der Zweiten Republik gestimmt hätte, dass unterm Nationalsozialismus strafrechtlich Verurteilte generell auch tatsächlich als strafrechtlich belangt anzusehen wären, und nur in bestimmten Bereichen — und wie üblich auf Eigeninitiative — eine Annullierung der Strafe aus dem Strafregister zu erfolgen habe. Die Handhabung dieser Praxis, so viel lässt sich aus neueren Studien schon herauslesen, war selbst wieder überaus halbherzig. Die Recherche zu den sechs Namen, die auf der mittlerweile wieder aufgetauchten Liste von 1939/40 als strafrechtlich belangt zur Aberkennung des Doktoratstitels stehen, haben aber ganz anderes ergeben. Fünf von ihnen sind eigentlich als Opfer politischer Justiz anzusehen, und nur einer als Straftäter, paradoxerweise wegen des Verbrechens der Selbstbereicherung im Zuge von Arisierungen. Otto Kirchheimer hat dem Begriff der politischen Justiz die kürzestmögliche Definition gegeben: sie „bezweckt, politische Gegner auszuschalten“.* Schon die Definition der Grenze zwischen Freund und Feind markiert, wie rigide und brutal das jeweilige Regime agiert. Die fiinf Opfer politischer Justiz, die erstmals ins Zentrum medialen und historischen Interesses geriickt wurden, lassen aufgrund der unterschiedlichen Griinde ihrer Bestrafung eine Art Typologie der politischen Justiz des Nationalsozialismus erschließen: im ersten Fall handelte es sich um strafrechtliche Verfolgung aus „rassischen‘“ bzw. sexuell diskriminierenden Gründen; beim zweiten um Resistenzhaltung; im dritten Fall um verbale Widerstandsäußerung; im vierten um dezidierten Widerstand. Diese vier Typen korrelieren durchaus den „vier Ebenen der politischen Justiz“, die Kirchheimer skizziert.” Bei der Kriminalisierung von Juden und Homosexuellen wurden „gewöhnliche Kriminaltaten“ auf Basis rassistischer und homophober, diskriminierender Ressentiments konstruiert. Die Verbreitung monarchistischer und legitimistischer Parolen wurde als direkter Angriff auf die Staatsordnung verstanden. Aufstandsprä70 vention korrelierte der Verurteilung einer Person, die sich positiv zu einem Attentat auf Adolf Hitler geäußert hat. Das Hören von verbotenen Sendern ist eine weitere Konstruktion - ein „politisches Kunstdelikt“, wie Kirchheimer schreibt, „ein Kunstprodukt“.° Die Übernahme des Kirchheimerschen Analyseapparats ist einerseits problematisch, bezieht er sich doch auf die zu jener Zeit vorherrschende Praxis der Schauprozesse im Ostblock und die strukturell ähnlichen, wenngleich „schwächeren“ politischen Prozessen in den westlichen Industrieländern. Die Grundlage für sein Verständnis von „politischer Justiz“ ist der Kalte Krieg; die regelrechte Auflösung des Strafrechts durch reine Verwaltungsagenden und Zergliederung in verschiedenste Kompetenzen (von Sondergerichten bis zu Standesgerichtsbarkeiten, etwa von SS und NSDAP), wie im NS betrieben, ist hier nicht im Blick.’ Andererseits bleibt der Begriff sowohl in Absetzung zur geltenden juristischen Auffassung als auch in Bezug auf die Kontinuität im Post-Nationalsozialismus erhellend. Das Erste ist notwendig, solange es herrschende Rechtspraxis ist, dass strafrechtlich Verurteilte als Straftäter weiter angesehen werden. Dagegen bringt der politikwissenschaftliche Begriff der politischen Justiz die Dimension der Einflussnahme eminenter politischer Interessen in die nur scheinbar unbehelligte Sphäre der Justiz ins Spiel. Das Zweite — die Konitnuität — lässt sich am einfachsten an einem Beispiel veranschaulichen: Eines der fünf strafrechtlichen Opfer auf der wiederaufgetauchten Liste wird wegen Homosexualität verurteilt. 1948 erhält er einen Brief von der Universität Wien, in dem er neuerlich aufgefordert wird, sein Diplom zurückzusenden — eine Unmöglichkeit, ist er doch seit 1941 nicht mehr in Besitz des Doktortitels. So wird jemand zweimal aus demselben Grund die Aberkennung seines Doktortitels mitgeteilt — vor und nach dem Regimewechsel auf der Basis der gleichen Rechtsprechung. Zugleich ist dies ein Beispiel mehr für die Hartnäckigkeit der juristischen, politischen und gesellschaftlichen Kontinuitäten nach dem Nationalsozialismus. Es zeugt auch für die bis heute ungebrochene Verdrängungsleistung, wenn bei klarer Vorlage solcher Fälle die nur noch blind zu nennende Hoffnung zum Ausdruck kommt, dass es doch nun die letzte Aufklärung zu diesem Themenkomplex wäre; dass nun doch Schluss wäre; dass nun alle Schuldigkeit getan sei. So der einhellige Tenor der Vertreter der Universitätsverwaltung bei der Gedenkveranstaltung. Schön wäre es, wenn sie recht hätten, wenn also das Thema nun wirklich aufgearbeitet wäre. Doch, wie die Fakten bezeugen, ist das Gegenteil der Fall, und daher bezeugen diese Aussagen nur die neuesten Varianten der Semantik der Halbherzigkeit und der Haltung der Unverfrorenheit. Fassen wir das Paradoxon zusammen: Nur weil sich sechs strafrechtlich Verurteilte auf einer Liste mit Prominenten befunden haben, aus reinem Zufall folglich, ist die Recherche zu allen 32 Personen zugleich eine Art Stichprobe geworden. Einen Schluss lässt das Ergebnis jedenfalls zu: wenn die beteiligten Historiker und Studierenden von sechs Personen nach sorgfältigem Abwägen und genauer Recherche gefunden haben, dass fünf davon als Opfer politischer Justiz zu gelten haben — dann wird die heute noch unbekannte Zahl an Doktoratsaberkennungen aus Gründen politischer Justiz nicht gerade gering sein. Unbekannt ist aber, wie viele AbsolventInnen dieser Universität es getroffen hat, warum es sie getroffen hat, was sie dadurch erlitten haben, ob sie um Wiederzuerkennung angesucht haben, und zuletzt: ob es gerechtfertigt gewesen ist. Bekannt ist immerhin, dass einiges an Aufklärungsbedarf bestünde, dass es aber an einer klaren politischen Position der Verantwortlichen mangelt, diese Erarbeitung endlich zu schaffen. Einen kleinen Stein immerhin hat die Gedenkveranstaltung ins Rollen gebracht: Die Nationalratsabgeordnete der Grünen Terezija Stoisits hat eine Parlamentarische Anfrage an Ministerin Elisabeth Gehrer eingebracht, in der unter anderem Angaben über die Anzahl der Doktoratsaberkennungen und die rechtliche Grundlagen erbeten werden. Auf die Antwort darf man gespannt sein — auch in Hinsicht auf Semantik und Haltung. Thomas König Anmerkungen 1 Das Folgende bezieht sich auf den Bericht von Dr. Kurt Mühlberger, Direktor des Universitätsarchivs der Universität Wien, an den Rektor der Universität Wien, Dr. Georg Winckler: „Betr.: Dr. phil. Stefan Zweig — Aberkennung akademischer Grade im NS-Regime“, vom 19.1. 2003. 2 So der Titel und die überzeugende These eines Aufsatzes des Grazer Soziologen und Wissenschaftshistorikers Christian Fleck: Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich. In: ÖZG 1/1996, 67-92. 3 Ebd. 91. 4 Otto Kirchheimer: Politische Justiz. In: Funktionen des Staats und der Verfassung. Zehn Analysen. Frankfurt/M. 1972, 147. 5 Vgl. ebd. 153ff. 6 Ebd., 169. 7 Kirchheimer thematisierte diese Tendenzen in einem früheren, 1941 erschienenen Aufsatz: Das Strafrecht im nationalsozialistischen Deutschland. In: Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung. Frankfurt/M. 1976, insbes. 196f.