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den Preis für muttersprachliche Autoren erhalten. Vladimir Nikiforov war in seiner Heimat Russland Dozent für Deutsche Literatur und beschreibt sein Nachtwächterdasein in Wien mit Humor und feiner Ironie: „Eine Internationale der gescheiterten Existenzen. Jeder hat seine eigene, meistens aus Phantasien bestehende Geschichte“. Nikiforovs rundumund rückblickende Tagebuchaufzeichnungen sind witzig, interessant und voll scharfzüngiger Reminiszenzen und literarischer Spitzfindigkeiten. Sein Beitrag wurde mit dem zweiten Preis ausgezeichnet. Den ersten Preis konnte die Südkoreanerin Anna Kim für ein überaus kunstvolles „Sprachgewebe“ behaupten, das sie „Irritationen“ nennt. In Österreich aufgewachsen und mit der heimischen, auch der literarischen Welt vertraut, ist es weniger das Fremdsein in einer äußeren Umgebung, als längst Eingebürgerte vielmehr die Suche nach der eigenen Identität, nach Zwiespältigkeiten, Zwischentönen, die als Antrieb zum Schreiben und durchaus auch stilbildend zum Ausdruck kommen. Anna Kim hat in Österreich literarische Erfahrungen gesammelt, Literatur und Philosophie studiert; ein schriftstellerisches Talent, das zu Hoffnungen berechtigt. In der vorliegenden Anthologie wurde der begabte Bulgare Dimitré Dineb mit der ,,Boshidar‘ mit dem dritten Preis bedacht. Seine kraftvolle, zügige Erzählweise knüpft an alte Traditionen an. Durch geschickten Aufbau der dramatischen Handlung beherrscht der zweisprachig schreibende Autor wie nur wenige die Kunst, seine Leser mitzureißen und zu bezaubern. „Ich liebe das Schreiben“, bekennt die hochbegabte dreizehnjährige Slata Krymtseva aus Kasachstan, die jüngste unter den Teilnehmern. Sie lebt mit ihren Eltern schon lange in Wien, ist viel gereist, besucht ein Gymnasium und will bald studieren. In ihrem reflexiven, klar formulierten Aufsatz betrachtet sie sich als „Fast-Österreicherin“. „Wien ist meine persönliche Lieblingsstadt. Wo ich auch war ...“ In das erfolgreiche, nun bereits mehrere Jahre laufende interkulturelle Projekt des Vereins Exil wurde auch eine Schulklasse einbezogen. Schüler und Schülerinnen der Externen Hauptschule ISOP in Graz geben ihre Eindrücke in Österreich wieder, aber auch Erinnertes, Mythen, Geschichten oder sie treffen kurze, persönliche Aussagen. So darf sich der Interessierte bald schon eines kurzweiligen, gar nicht schwierigen Zugangs zu Jugendlichen verschiedener Länder erfreuen: zu Indern, Afrikanern, Türken, Ankömmlingen aus Sierra Leone... Den literarischen Beiträgen sind jeweils Gespräche der Herausgeberin mit den AutorInnen beigegeben. Aufschlussreich und anregend! Rosemarie Schulak Christa Stippinger (Hg.): fremdLand. das buch zum literaturpreis schreiben zwischen den kulturen 2000. Wien: edition exil 2000. 190 S. Euro 13,50 „Engelszungen“ Dimitré Dinev schreibt einen, aus mehreren Erzählsträngen gewundenen und geflochtenen Entwicklungsroman von zwei Söhnen (Svetljo und Iskren), zwei Vätern (Jordan und Mladen) und einer Großmutter (Sdravka), samt großer Verwandtschaft und Freunden. Bulgarien, Plovdiv, die Rhodopen sind das ,,situative Herz des Romans, das Zentrum des aufkeimenden, neuen Lebens, das letztlich in den Wirren des politischen Umbruchs, der Wende, von den Söhnen verlassen werden muß. Das Meer, Sofia, Wien sind Orte der Anziehung; die beiden Städte erfüllen die in sie gesetzten Erwartungen nicht, das Meer bleibt Mysterium und „Urmutter“. Beide Väter wachsen im zunächst stalinistischen Bulgarien auf und finden, jeder auf seine Weise, einen Weg, dem System zu dienen und darin Karriere zu machen. Als Todor Shivkov an die Macht kommt, geht die politische Karriere von Mladen als kommunistischer Funktionär steil aufwärts, auch Jordan reüssiert in der Volksmiliz, bis es zur verhängnisvollen Begegnung zwischen Mladen und Jordan vor der Entbindungsstation kommt. Beide glauben auf Grund ihrer politischen und beruflichen Position so privilegiert zu sein, daß ihre hochschwangere Frau als erste, vor der anderen, entbinden wird. Der hohe Funktionär Mladen setzt sich gegenüber dem uniformierten Milizionär durch, doch das von Mladen heiß ersehnte Mädchen stirbt bei der Geburt, während Jordan seinen heiß ersehnten Buben Svetljo in Händen halten kann. Die Rivalität der beiden Männer/Väter durchzieht den Roman als einer der vielen roten Fäden: Mladen versucht sich an Jordan für sein familiäres Unglück zu rächen und seine Degradierung durchzusetzen, während Jordan nach seinem Karriere-Knick auf langfristige Rache an Mladen sinnt. Während sich die beiden Väter in ihren fixen Ideen und Weltbildern verrennen und immer mehr pathologisches Verhalten zeigen, haben die beiden Frauen und Mütter dem wenig entgegen zu setzen und flüchten sich in Alkohol und Abscheu vor dem Mann. Sie können ihren Söhnen keine Heimat bieten. Das rettende Ufer für die beiden Söhne Iskren und Svetljo sind die Großeltern, allen voran die Großmutter von Iskren, Sdravka. (Das Buch ist beiden Großmüttern von Dimitré Dinev gewidmet.) Sie bietet Iskren die nötige Wärme und demaskiert die Kälte ihres Sohnes als Verirrungen eines politischen Karrieristen. Ihre Gespräche am Grab des Großvaters, zu dem sie Iskren immer mitnimmt, sind Reflexionen über die Entwicklung der eigenen Familie vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Bulgarien. Der „lebendige“ Umgang mit den Toten, das Grab und der Friedhof als Ort der Besinnung und des Gesprächs mit den Toten und den Lebenden begegnet dem Leser gleich zu Beginn des Romans, gleichsam als Rahmenhandlung in Wien, am Zentralfriedhof. Die Toten sollen den verirrten und ratlosen Heimatlosen helfen und den Weg weisen. Auch dies einer der roten Fäden, denn am Anfang und am Ende der Erzählung ist es ein toter Serbe, der „Engel“, der beiden Söhnen im kalten Wien einen Ausweg zeigen soll. Das Gespräch am Friedhof ist auch ein Gespräch über die Sprache, die Großmutter erzählt dem toten Großvater stolz darüber, daß der Enkelsohn auch Deutsch lernt, und Iskren lernt Lesen, indem er sich die Inschriften auf den Gräbern einprägt. Anhand der Entwicklung der beiden Söhne Iskren und Svetljo (nur dessen Stammbaum wird als Schema dargestellt) wird der „gebrochene“ Sprach- und Kulturerwerb im Bulgarien der 70er und 80er Jahre problematisiert. Hier erahnt der Leser auch biographische Elemente, Parallelen zum Leben des Autors, ohne den Eindruck des platten Abbildens einer eindimensionalen Realität. Der Spracherwerb von Svetljo wird durch ein einschneidendes Erlebnis bei der Rede des Genossen Todor Shivkovs am 15. September 1969 anläßlich des 25. Jahrestages der Gründung der Organe des Ministeriums für Inneres (einschließlich des Staatssicherheitsdienstes) geprägt, zu der der stolze Vater Jordan seinen einjährigen Sohn Svetljo mitnimmt. Als der Jubel der Menge ausbricht, wacht das Kind auf, sieht viele Gesichter um sich, alle schreiend, alle unheimlich und erschrickt so, daß es seine Zunge verschluckt und dabei zu ersticken droht. Der Vater befreit die Zunge des Sohnes, doch dieser beschließt von nun an zu schweigen. Nach einem Jahr des Schweigens hält es die Mutter nicht mehr aus und geht zu einer Romni, einer Wahrsagerin, Sultaniza, die das Kind zum Reden bringen soll. Diese spürt sofort die Angst und den Schrecken, die in Svetljo stecken und gießt ihm eine Bleikugel, die er um den Hals tragen soll, bis er das erste Wort spricht. Die Worte der Wahrsagerin sind einer der Schlüssel zum Roman: „Große Angst ist in deinem Kind, schwere Angst, schwer wie Blei.“ Sie spricht von drei Zungen, die Svetljo wachsen werden. Mit der ersten wird Svetljo selber die Angst beißen, er wird zäh wie ein Hund werden, doch diese erste Zunge wird weggerissen und den Hunden gegeben. Die zweite, die an den Schwanz einer Eidechse erinnert, wird den Vögeln zum Fraß vorgeworfen, und erst die dritte Zunge soll er behalten, denn die bekommen nur die Engel. Svetljo schweigt weiter und beobachtet die Welt mit großen Augen. Erst als er fünf Jahre alt ist, gibt ihm sein Großvater Ognjan das Stichwort zum Sprechen. Bei einer Radioansprache des Genossen Shivkov, die laut Großvater nur Scheiße ist, wiederholt er lächelnd den Satz: „Der Genosse Shivkov kackt von unten und von oben.“ Der Vater, der als Mitglied des Staatssicherheitsdienstes gerade im Begriff ist, einen Ver77