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dächtigen mittels Folter zum Reden zu bringen, erfährt von seinem Glück (Svetljo hat als erstes Wort „Shivkov“ gesagt!), läßt den Verdächtigen laufen, und zur Belohnung fährt die Familie ans Meer. Hier erfährt Svetljo zum ersten Mal, wie gefährlich der anrüchige Satz ist. Er verliert seinen neuen Freund, als er ihn damit beeindrucken will, sein Vater droht ihm Prügel an. Bald danach lernt Svetljo seinen Urgroßvater, den Popen Serafim kennen. Alle machen sich über den alten Mann lustig, der noch an Gott glaubt. Doch Svetljo findet heraus, daß das nicht stimmt, „er glaubt nicht an Gott, er redet nur mit ihm“. Mit dem Tod des Urgroßvaters endet das Kapitel von Svetljos früher Kindheit und es beginnt jenes von Iskren. Wir erfahren, daß Großmutter Sdravka sich um ihn kümmert und er in den deutschsprachigen Kindergarten gehen soll, um Deutsch zu lernen, wie sein verstorbener Großvater Stanoj, mit dem die Großmutter so viel am Grab bespricht. Im Kindergarten lernt Iskren seine erste Liebe kennen. Lena verzaubert ihn mit ihrem Hund in der Tasche, den keiner sehen kann, und vielen verrückten Ideen. Iskren ist erschrocken über die neue Sprache, die „die Welt so verwandelte, daß sie auf einmal so mühsam und unbekannt wurde, unbekannter sogar als jene, die auf dem Friedhof lagen“, aber der Wunsch, Lena zu sehen, läßt ihn die Angst überwinden. Die Geschichte der zarten Liebe zu Lena und der Liebe zur Großmutter ist eine der berührendsten Episoden in diesem Entwicklungsroman. Sie endet damit, daß Iskren in die Schule kommt. Es folgen die Jugendkapitel von Svetljo und Iskren und immer wieder kreuzen sich ihre Wege, ohne daß sie sich je kennen lernen. Das junge Erwachsenenalter beider fällt zusammen mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Bulgarien 1990, und diesen Zusammenbruch überlebt auch Iskrens Vater Mladen nicht. Jordan ist über die Entwicklung seines Sohnes Svetljo entsetzt und verliert jeden Zugang zu ihm. Er entdeckt den Liebhaber seiner Frau, lauert ihm auf und tötet ihn. Er schneidet ihm die Zunge ab, die seiner Frau Lust bereit hatte und hebt sie auf. Er endet schließlich als „Heiliger“, der die Stimmen seiner Folteropfer hört, die Trostsuchenden Heilung bringen. Iskren versucht der neuen Zeit gerecht zu werden und macht viel Geld mit Betrügereien, was ihn letztlich dazu zwingt, ins Ausland zu gehen. Svetljo schlägt sich mit einem Freund nach Österreich durch, landet im Lager Traiskirchen und versucht in Wien sein Leben neu zu ordnen. Der Roman klingt aus mit der Szene am Zentralfriedhof, wo sich jetzt beide, Svetljo und Iskren am Grab des Engels Miro, dem Serben, den Iskren eigentlich töten wollte, treffen. Ob ihnen Miro wirklich einen guten Rat geben konnte, bleibt offen. Wien ist kein Hafen, hier verrinnt die Zeit durch Überanpassung, wie eine tote Zeit, wo 78 man beim toten Serben am Zentralfriedhof Rat sucht. Hier strandet man eher, vom Balkan her kommend und findet Trost bei anderen Gestrandeten. Hinzuweisen ist auf die auch bei Dinev verdeckt bleibende ,,verborgene Kultur der bulgarischen Frauen“ (im Sinne ethno-psychoanalytischen Betrachtung Maya Nadigs), die das bereits schwache und heimatlose Patriarchat der Manner einerseits ertragen und andererseits doch für die Söhne da zu sein versuchen. Es sind die Großmütter, die Mütter erscheinen zu schwach, über die Töchter erfahren wir von Dinev zu wenig. Der rote Faden ist die Menschlichkeit, die Liebe, der Humor der Großmutter, der Prostituierten Isabella, der Großväter und die polternden und saufenden Grobiane mit den offenen Herzen. Es scheint der unbewußte Auftrag der verborgenen Kultur der bulgarischen Frauen an ihre Söhne, die Suche nach dem verlorenen Paradies der Kindheit nicht aufzugeben, das immer Offen-sein und bleiben für eine (kindliche) Offenbarung, ein Nichtabschließen, ein Weitergehen und Anpassen, ein Einstellen auf jeweils neue Lebenschancen, ein im Fluß-bleiben, aber auch nicht konsequent zu Ende führen, das Ende hinausschieben, naiv bleiben gegenüber dem Hören von Engelszungen. Dimiter Martin Hoffmann Dimitre Dinev: Engelszungen. Roman. Wien, Frankfurt/M.: Deuticke 2003. 598 S. Czernowitzer Geschichten Der an der Universität Jassy (Iasi, Rumänien) lehrende Germanist und Literaturwissenschafter Andrei Corbea-Hoisie hat in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen zur Kulturgeschichte der Bukowina im allgemeinen und zur Literatur aus Czernowitz im besonderen verfasst und ein Dutzend seiner Arbeiten nunmehr im vorliegenden Band in überarbeiteter Form gesammelt. Der Schwerpunkt von Corbeas Interesse liegt in der Untersuchung der deutsch-jüdischen Wechselbeziehungen in der ab 1774 österreichischen und in der Zwischenkriegszeit rumänischen Bukowina und in der Hinterfragung des ‚Mythos Czernowitz‘ als Konstrukt eines ‚westlichen Blickes‘. Als ausgewiesener Kenner der Bukowiner Literatur findet Corbea dabei den Zugang zum Thema meist über literaturwissenschaftliche Fragestellungen. In seinem Vorwort äußert Corbea Zweifel an der Realisierbarkeit des Vorhabens, eine geschlossene ‚Geschichte‘ jener ‚mitteleuropäischen Enklave‘ um Czernowitz verfassen zu wollen, und sieht seine Aufsatzsammlung daher als Beitrag zu einem ‚geschichtlichen Mosaik‘ in Form von ‚Czernowitzer Geschichten‘. Es handelt sich beim vorliegenden Buch also nicht — wie der Titel suggeriert — um einen Erzahlband in der Tradition lokaler ‚Provinzschriftsteller‘, sondern um eine Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze, die — durchaus in Anlehnung an narrative Methoden — versucht, das Ganze über seine Teile zu erschließen. Wer sich also, vom Titel des Buches verführt, eine Anekdotensammlung in der Nachfolge von Rezzoris Maghrebinischen Geschichten erwartet, wird beim Anlesen einer beliebigen Textstelle erkennen, dass der vorherrschende wissenschaftliche Fachjargon zwar hohe Sachkompetenz vermittelt, aber bisweilen zu Lasten der Lesbarkeit geht. Große Aufmerksamkeit widmet Corbea in seinen Arbeiten dem aus Galizien stammenden, in Czernowitz aufgewachsenen Schriftsteller Karl Emil Franzos, dessen Todestag sich heuer zum 100. Mal jährte. Corbea ‚outet‘ Franzos als Begründer eines ‚Mythos Czernowitz‘ und stellt klar, dass es sich dabei keineswegs um eine Erfindung unserer Tage handelt, in denen ein solcher Mythos verstärkt teils gefördert, teils bestritten, jedenfalls aber kultiviert wird. Waren die Reiseberichte aus der Bukowina bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch von der Exotik jenes seltsamen Stückchen Landes geprägt, das man sich da 1774 von den Türken eingehandelt hatte, zeichnete Franzos in seinen 1876 erstmals erschienenen Culturbildern aus Halb Asien erstmals jenes Bild von der Bukowina als ‚Westen im Osten‘ und ‚deutscher Kulturinsel‘, das dem Mythos Czernowitz bis heute zugrunde liegt. Autoren wie Franzos stellten die Tatsache, dass die meisten Bukowiner Juden sich infolge der Bildungspolitik Wiens deutsch assimilierten, als ‚segensreiche Wirkung der deutschen Kultur‘ dar und sahen die Juden des östlichsten Kronlandes auf dem besten Weg, „Idealösterreicher im habsburgischen Sinne‘ zu werden. Die Czernowitzer selbst freilich beklagten bis 1918 die Unausgewogenheit und Zufälligkeit in der Wahrnehmung durch den Westen. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen zur allgemeinen Problematik der ‚Provinz‘ die sozialen und politischen Ausgrenzungsversuche durch die neuen rumänischen Machthaber hinzu. Ein radikaler Antisemitismus, der in der rumänischen Elite schon vor 1918 durchaus ausgeprägt war — Corbea zeigt dies am Fall des rumänischen Nationaldichters Mihai Eminescu —, steigert sich in der Zwischenkriegszeit zu staatlich gefördertem Rassismus, wie Corbea an den Beispielen der Politiker Nicolae Iorga und Ion Nistor zeigt. Nistor, wegen seiner Agitation aus Österreich ausgewiesen, kehrte 1919 nach Czernowitz zurück, um energisch die rumänischen Herrschaftsansprüche durchzusetzen. Dabei konnte er nur bedingt auf die Unterstützung lokaler rumänischer Politiker bauen, die unter Habsburg zwar für nationale Rechte eingetreten waren, kaum aber für einen Anschluss der Bukowina an Rumänien. Dem Umbruch von 1918/19, der gerade von Nichtrumänen, die sich nun plötzlich als Min