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derheit in der Defensive sahen, als traumatisch empfunden wurde, widmet Corbea eine exzellente Darstellung in einem Beitrag, der eigentlich der expressionistischen Zeitschrift Der Nerv gilt. Der Nerv, der 1919 in nur 14 Nummern erschien, gilt als der erste Versuch einer Czernowitzer Moderne. Konnte man bis dahin die in der Bukowina entstandene Literatur fast durchwegs als ‚Provinzliteratur‘ bezeichnen (dazu ein anderer Aufsatz des Buches), entstand nun ausgerechnet in einer Atmosphäre zunehmender Rumänisierung eine deutschsprachige Literatur, die in der Lyrik Paul Celans ihren ‚Höhepunkt‘ finden sollte. Corbea zeigt freilich auch die Bedeutung der Vielsprachigkeit für Celan und dessen Werk auf. In weiteren Beiträgen befasst sich Corbea mit Celan als Emigrant, mit ‚Maghrebinien‘ als Gedächtnisort und mit dem Werk des umstrittenen jüdisch-rumänischen Schriftstellers Norman Manea. Dass es dabei zu inhaltlichen Wiederholungen kommt, liegt in der Natur des Buches als Sammlung voneinander unabhängig entstandener Aufsätze. Seinen in familiärer Verwurzelung gründenden persönlich-emotionalen Zugang zum Thema schildert Corbea im letzten Beitrag ‚Czernowitz mon amour‘, in dem er zum Befund kommt: „In Czernowitz liegt die vorerst einzige Gewissheit in der Vergangenheit.“ Das Buch ist hervorragend lektoriert, was — wie man von anderen Böhlau-Publikationen weiß — nicht dem Verlag zu danken ist, sondern Fachkollegen von Corbea-Hoisie und dem Hang des Autors zu akribisch genauer Arbeit. Helmut Kusdat Andrei Corbea-Hoisie: Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mitteleuropa. Wien: Böhlau 2003. 252 S. Euro 35,Erinnerungen Czernowitzer Juden Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die zweite ‚Gemeinschaftsproduktion‘ einer Gruppe von acht jungen deutschen Osteuropaexperten um die renommierte, am Münchner ‚Institut für deutsche Geschichte und Kultur Südosteuropas‘ tätige Historikerin Mariana Hausleitner. Schon 1996 dokumentierte diese Arbeitsgruppe die Lebenserinnerungen der letzten einheimischen jüdischen Bewohner von Czernowitz und publizierte sie mit großer editorischer Umsicht und wissenschaftlicher Genauigkeit unter dem Titel Czernowitz is gewen an alte, Jidische Schtot... Überlebende berichten (vgl. ZW Nr.2/2000, S. 80f.) Ermutigt vom Erfolg dieser Arbeit und unterstützt von der Berliner Heinrich Böll Stiftung, führten die Wissenschafter ihr Forschungsprojekt fort und zeichneten Gespräche mit 50 heute in Israel lebenden gebürtigen Bukowinern der Jahrgänge 1906 bis 1933 auf. Wurden die Erinnerungen der Czernowitzer Gesprächspartner im ersten Band noch nach Personen gegliedert und unkommentiert wiedergegeben, entschieden sich die Autoren nunmehr für eine arbeitsintensivere ‚Kollagetechnik‘: Zitate aus den Interviews wurden in einen chronologisch und thematisch unterteilten Fließtext eingebaut. Dabei wurden die durch Kursivschrift hervorgehobenen Aussagen der Zeitzeugen geglückt mit den wissenschaftlichen Vor- und Zwischentexten der Autoren verbunden. Sie verleihen diesen dadurch Authentizität und machen das Buch zudem gut lesbar. Als positiv anzumerken ist auch, dass die Interviews nicht ins Hochdeutsche transkribiert wurden, sondern die jiddischen und slawischen Einfärbungen des mit Austriazismen versetzten ‚Czernowitzer Deutsch‘ erhalten blieben. Die Einteilung des Buches in sieben Kapitel orientiert sich am Lebensweg der Zeitzeugen, die ihre Jugend im Czernowitz der 1920er und 1930er Jahre durchlebten, den Holocaust überlebten und in Israel eine neue Heimat gefunden haben. Das Leben dieser Generation ist also wesentlich durch den Weltkrieg und die Emigration geprägt, während sie Czernowitz als Hauptstadt des ‚multikulturellsten‘ aller österreichischer Kronländer selbst nur noch als Reminiszenz und Mythos erlebt hat. Trotz der Fülle des in über 50 Interviews gesammelten Materials erheben die Autoren keinen Anspruch auf Repräsentativität. So entstammen die Gesprächspartner - nicht zuletzt als Folge der Shoah — größtenteils dem einst gut situierten, assimilierten Czernowitzer Bürgertum. Die Jugenderinnerungen drehen sich vorwiegend um die Schul- und Universitätszeit, um die Freizeitgestaltung — hier vor allem den Sport in national getrennten Vereinen — und rege kulturelle Aktivitäten in den über 200 jüdischen Vereinen im Czernowitz der Zwischenkriegszeit. Politik spielte im Leben der Jugendlichen nur indirekt eine Rolle. So wird der zunehmende Rumänisierungsdruck in der 1918 Rumänien zugefallenen Bukowina als unangenehm, aber zugleich als identitätsstiftend empfunden. Politisches Denken wird in Vorfeldorganisationen wie dem Jiddischen Schulverein oder zionistischen Burschenschaften geschärft. Markante Ereignisse, wie die Ermordung jüdischer Studenten durch die rumänische Polizei bleiben jedoch unerwähnt. Wohl wahrgenommen wurden atmosphärische Veränderungen wie die Abwendung der Deutschen, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung von Czernowitz ausmachten, von ihren jüdischen Nachbarn ab 1933 und der sich radikalisierende staatliche Antisemitismus. Es war nicht zuletzt die zunehmende Benachteiligung im öffentlichen Leben, die viele Gesprächspartner in der Besetzung von Czernowitz durch die Sowjetunion 1940 eine Befreiung sehen ließ. Auch die mit dem Sowjetregime einhergehende Lockerung gesellschaftlicher Zwänge und bürgerlicher Konventionen sahen die damals jungen Menschen zuerst positiv. Die Euphorie wurde freilich bald gedämpft, als Enteignungen, Verhaftungen und willkürliche Deportationen nach Sibirien einsetzten. Die folgenden Jahre der rumänisch-deutschen Besatzung von Czernowitz überlebten manche der Befragten in der Gruppe jener etwa 20.000 Juden, die in Czernowitz bleiben durften. Andere gehörten freilich zu jenen 30.000 Czernowitzern, die in die Lager und Ghettos Transnistriens deportiert wurden und dort mehrheitlich den Tod fanden. Den Lagerjahren in Transnistrien, die im Leben der meist in behüteten Verhältnissen aufgewachsenen Jugendlichen einen radikalen Bruch darstellten, ist ebenfalls ein Kapitel gewidmet. Die meisten der Zeitzeugen emigrierten nach Kriegsende zuerst nach Rumänien und — nach unterschiedlicher Verweildauer — weiter nach Palästina bzw. Israel. Für viele gestaltete sich die Integration in Israel als schwierig, nicht zuletzt wegen des Festhaltens an der deutschen Muttersprache. Dies mag mit ein Grund für den ungewöhnlich starken Zusammenhalt der im ‚Weltverband der Bukowiner Juden‘ organisierten Czernowitzer sein, dessen Mitteilungsblatt Die Stimme seit mehr als fünfzig Jahren allmonatlich erscheint. Andererseits verhalf die fundierte Bildung verhältnismäßig vielen Czernowitzern zu beachtlichen Karrieren in Politik und Wirtschaft. Was den heute in Israel lebenden Bukowinern hingegen mit anderen Vertriebenen und Emigranten gemein ist, ist der bei Besuchen in der alten Heimat gewonnenen Eindruck, dass das Czernowitz von heute einem Vergleich mit ihren Erinnerungen nicht standzuhalten vermag. Nicht nur das behutsame Einbetten der naturgemäß subjektiven Erinnerungen der Zeitzeugen in historische Erkenntnisse zeugt vom respektvollen Umgang der Herausgeber mit dem ihnen anvertrauten Material, sondern auch der vorbildliche wissenschaftliche Apparat des Buches, bestehend aus Kurzbiographien der Protagonisten, einem Glossar mit Begriffserklärungen, Literaturhinweisen, einem Autorenverzeichnis und einem Verzeichnis der aus dem Besitz der Interviewpartner stammenden Photos. A propos ‚Photos‘: Durch Unachtsamkeit des Verlages ist ein Teil der gut 70 Abbildungen miserabel reproduziert, was den Eindruck verstärkt, dass die editorische Sorgfalt, die Böhlau seinen Publikationen angedeihen lässt, großen Schwankungen unterworfen ist. Ein Essay des aus der Bukowina stammenden Schriftstellers Edgar Hilsenrath rundet das wichtige und empfehlenswerte Buch ab. Helmut Kusdat Gaby Coldewey u.a. (Hg.): Zwischen Pruth und Jordan. Lebenserinnerungen Czernowitzer Juden. Köln: Böhlau 2003. 176 S. Euro 16,90 79