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muliert: Haben wir überhaupt die Wahl, oder handelt es sich nicht viel mehr um eine Art von Zwang, sich stets aufs neue und aus unterschiedlicher Perspektive dem Thema nähern zu müssen? Wenngleich die Frage nach der Motivation der eigenen Tätigkeit in dieser Allgemeinheit nur schwer zu beantworten ist, so gibt es dennoch eine gemeinsame Geschichte, die Verbindung stiftet: Da ist zunächst die familiäre Herkunft jener, die nur wenige Jahre nach dem Ende des Krieges zur Welt gekommen sind und von einer Generation in die Welt gesetzt und großgezogen wurden, deren Angehörige in der Regel als Täter, Mitläufer oder Zuschauer (R. Hilberg) in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt waren, eine Generation, in der „unschuldige Biographien“ nur selten zu finden sind. Bernd Leineweber, Christian Schneider und Codelia Stillke haben in ihrem Buch Das Erbe der Napola', also das Erbe jener Nationalpolitischen Erziehungsanstalten des Deutschen Reiches, in denen die Elite herangebildet werden sollte, gezeigt, was es psychoanalytisch bedeutet, in einer solchen postfaschistischen Familie aufgewachsen zu sein: „Ein Problem für die zweite Generation in Deutschland - nicht allein für die Kinder von Napola-Absolventen ist - daß ihre Selbstreflexion in einem wesentlichen Teil eigentlich — sit venia verbo — ‚Fremdreflexion‘ ist: eine Auseinandersetzung mit Implantaten, die eigentlich von den Eltern stammen und eigentlich Gegenstand von deren Selbstreflexion hätten sein müssen. Statt dessen wurden diese der Elterngeneration fremd gebliebenen Selbstanteile, deren ‚Fremdheit‘ durch die Sozialisationsagenturen des Nazi-Staats, wenn nicht produziert, so doch forciert wurde, unbearbeitet auf die Kinder iibertragen“.’ Diese eigene ‚Fremdheit‘ aber war gleichsam Resultat der Napola-Erziehung, deren psychologisches Prinzip darin bestand, dem Zögling durch ein propagiertes Idealbild sein eigenes Unvermögen, seine Abweichung ständig schmerzhaft vor Augen zu führen. Diese Negativität konnte nur als Unwürdigkeit, der Elite anzugehören und stets in ihrem Schatten zu stehen, erlebt werden. „Jeder von ihnen hütete sein Geheimnis der Abweichung wie eine versteckte Schuld.‘” Dadurch aber wurde nicht nur ein Gefühl der Abnormität erzeugt, sondern „eine Hermeneutik des Selbstverdachts: eine Form der Introjektion, die den kontrollierenden Blick der Anstalt in die eigene Wahrnehmung überführte ... Die Introjektion des ‚Blicks der Macht‘ legte die eigenen Schwächen bloß, macht sie aber nicht reflexiv einholbar. Dazu wäre es nötig, sie als Teil eines ‚Selbst‘ anzuerkennen, das keiner weiteren Reflexion bedarf als der, ein Individuum zu sein“.* Diese Reflexion aber war nicht nur dem Napola-Schüler verwehrt, auch der ganz gewöhnliche Volksgenosse, so zeigen die Autoren, war von der wahnhaften 86 Identifikation mit dem kollektiven Ideal erfasst. Insofern kann die Napola als paradigmatisch für alle Erzogenen des Dritten Reiches gelten. Nach der Befreiung wird nun in der postfaschistischen Familie diese Negativität im Medium der Erziehung von den Vätern reinsziniert; nahezu alles was der Mann im NS-Staat nicht sein durfte, und das war zumeist weiblich konnotiert, wie sogenannte männliche Verweichlichung, Homosexualität, Krankheit, Passivität, wurde abgespalten und in je unterschiedlicher Weise auf den Sohn bzw. die Tochter projiziert und an ihm oder ihr zu bekämpfen versucht. Das Charakteristische an einer solchen narzisstischen Beziehung ist der Umstand, dass das Kind, soweit es geliebt wird, als Verlängerung des Eltern-Ichs vereinnahmt und so gleichsam zur Fremdreflexion missbraucht wird. Indem es aber Liebe und Hass gleichermaßen erfährt, wird die Erfahrung, ein von den Eltern abgegrenztes Individuum zu sein, unendlich erschwert.’ Ist es unter anderem auch dieses „verwandtschaftliche“ Verhältnis, diese gespenstische Nähe und Verstrickung, an Stelle der Eltern mit deren aufgebürdeter Negativität konfrontiert zu sein, die uns mit den Verbrechen der Nationalsozialisten nicht fertig werden lässt? I. Die Frage nach der Motivation zu stellen, bedeutet aber auch stets die eigene politische Geschichte zu reflektieren, das heißt nach den gesellschaftlichen Zusammenhängen zu fragen, in welchen die politische Sozialisation stattfand. Was hier Verbindung stiftet, steht ganz im Zeichen linker Politik der siebziger und achtziger Jahre: war doch der überwiegende Teil jener, die sich heute nachhaltig mit Vertreibung, Verfolgung und Widerstand auseinander setzten, in einer der diversen Kadergruppen, bei den Maoisten, Trotzkisten oder in der KPÖ organisiert, bzw. in deren Umkreis aktiv. Charakteristisch für diese Form des Politikverständnisses der Neuen Linken aber war ein hoher Grad an Abstraktheit, ein Absehen von der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der wir lebten und leben und deren Eigenart gerade darin zu sehen ist, dass sie sich auf dem Boden der Resultate bewegt, die der Nationalsozialismus geschaffen hat.‘ Die Neue Linke verstand sich zwar als revolutionär, aber der Massenmord, der nirgends, schon gar nicht in Österreich, revolutionär geahndet worden war, gehörte nicht zu den Themen, mit welchen sie sich befasste. Mochte auch das Fortwirken des Nationalsozialismus etwa im Hinblick auf personelle Kontinuitäten, wie im Falle des Psychiaters Heinrich Gross, erkannt worden sein, die konkrete Frage, wie Überlebende den ganz alltäglichen Antisemitismus und das kollektive Schweigen über die Verbrechen ertrugen, wie es sich als Jüdin oder Jude inmitten der österreichischen Tätergemeinschaft, die sich zum Opferkollektiv stilisiert hatte, leben ließ, stand nicht im Zentrum des Interesses. Der weitgehenden Ausblendung dessen, was den essentiellen Kern des Nationalsozialismus ausmachte, die Shoa, lag ein falscher Begriff von Nationalsozialismus zugrunde: Was in der Theorie zumeist als ,,Faschismus‘“ firmierte, wurde als eine bloße Spielart des Kapitalismus, als „terroristische Form der politischen Herrschaft des Monopolkapitals“, wie etwa R. Opitz in Anlehnung an Dimitroff formulierte’, begriffen, wobei gerade die Singularität des Nationalsozialismus, der Antisemitismus und die Vernichtung der europäischen Juden, als weitgehend peripher abgehandelt wurde. Arbeiterbewegt, wie wir waren, hielten wir an einem abstrakten Klassenbegriff fest, der zur Erklärung des Nationalsozialismus und seiner volksgemeinschaftlichen Massenbasis, die durch das Feindbild der „Weltverschwörung des Judentums“ zusammengeschweißt worden war, nichts taugte. In Anbetracht dieses politischen Rüstzeugs war die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Zionismus, die seit Beginn der siebziger Jahre in der Neuen Linken weit verbreitet war’, kaum verwunderlich. Antizionismus war zu einem politischen Kampfbegriff avanciert, dessen identitätsstiftende Funktion unübersehbar war: während einerseits für die nationale und soziale Befreiung der Palästinenser gekämpft und ein eigener Staat gefordert wurde, gab man sich in bezug auf Israel staatskritisch und bezeichnete es als „künstliches Gebilde“ oder als „Brückenkopf für den USImperialismus“. Bis heute wollen viele Linke nicht wahrhaben, dass Israel als einziges Land den Juden Schutz vor Antisemitismus bietet, und sie begreifen nicht, in welcher Situation sich jüdische Opfer des Nationalsozialismus befanden und befinden; die Stimme Jean Ame£rys, der rasch verstand, dass unter „dem Banner des Antizionismus nichts als der alte miserable Antisemitismus“ zum Vorschein kam, stieß in Österreich auf noch weniger Resonanz als in Deutschland: „Daß ich mich heute wider meine natürlichen Freunde, die jungen Frauen und Männer der Linken zu erheben habe, ist mehr als die strapazierte ‚Dialektik*. Es ist eine jener üblen Farcen der Weltgeschichte, die einen am Sinne jeglichen historischen Geschehens zweifeln und am Ende verzweifeln machen.‘® II. Blättert man in den letzten Jahrgängen der Zwischenwelt, so fällt auf, dass heute der besonderen Situation der Juden weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, als das noch in den achtziger Jahren der Fall war. Wenngleich eine prinzipielle Klärung des Begriffs Antifaschismus und der damit verbundenen politischen Identität noch aussteht, so rückte er doch merklich in den Hintergrund; Übernommen von den wirklichen Widerstandskämpfern der dreißiger und vierziger Jahre wurde damit ebenso wie mit der Konzeption der Volksfront die besondere Lage der Juden mit der allgemeinen Geschichte der