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Jungen aus Lodz, siebzehnjährig, polyglott, mit einer erstaunlichen Kenntnis der Bibel. Im Hintergrund sind geliebte Wälder, solche, die den Menschen einen Auftrieb geben und sie inspirieren, im Vordergrund der Ettersberg und die tödlichen Verhältnisse in Buchenwald. Oder Wander schreibt lapidar einfache Sätze wie: „Auch im Lager gibt es Sonnenaufgang und Sonnenuntergang“, und es folgt eine Iyrische Beschreibung von lodernden Abenden und Tagen, die müde verbleichen „wie ein weggeworfener Strauß Narzissen.““ Mit den Städten ist es nicht anders als mit den Wäldern. Die Juden haben die Städte Europas geliebt, auch der Erzähler hat sie geliebt und tut es wohl noch immer. Von dem Verhältnis der Juden zu ihrer Heimat heißt es in dem Kapitel „Der Geruch der alten Städte“: „Sie, die Weitgewanderten, hängen, wenn sie seßhaft werden, mit verzweifelter Liebe an dem Stück Boden ( Die überall Fremden haben einen ausgeprägten Sinn für das tief Verwurzelte.“ Bei Wander sind die Machthaber, die Quäler, einfach die „Gestiefelten“ oder die „Stiefelträger“, das heißt, sie sind ihre Funktion, die sich in der Kleidung äußert, sonst nichts. Die Gefangenen dagegen werden liebevoll beschrieben, angefangen mit ihrem Aussehen und weiter mit ihrer Herkunft und was sie alles getrieben haben, bevor sie ins Lager kamen. Es ist die von Bert Brecht befürwortete und praktizierte Methode, die Armen und Geknechteten als Individuen darzustellen, und diejenigen, die ihnen das Leben vergällen als anonym, Vertreter eines Systems. Doch bei Wander verteilt sich gut und schlecht nicht auf arm und reich. Der zusammengewürfelte Haufen der Häftlinge kommt aus allen gesellschaftlichen Schichten. Er läßt uns nie vergessen, daß wir es mit Menschen zu tun haben, die nicht radikal anders sind als wir, die nur ein radikal anderes Schicksal erleiden. II. Aus einem Brief von Fred Wander an seine Frau Maxie: „Einige Leute haben meinen ,siebenten Brunnen‘ gelesen und schrieben mir begeisterte Briefe. Andere finden den Schlüssel nie. Wie beim ‚russischen Roulette‘ — sechs zu eins, daß ‚dich die Kugel trifft“ Sechs zu eins also: Der Schlüssel zu diesem Werk ist ein Erzähler, der nie den staunenden Blick, mit dem jeder das Leben anfängt, verloren hat. Gewiß, er stellt die Frage aller Bücher über die Nazidiktatur, die Frage nach Gut und Böse. Er stellt sie direkt, und er stellt sie implizit. Das Leben hat ihm die unbefangene Freude an der Welt ausgetrieben, oder sie ihm auszutreiben versucht. Trotzdem: Das Böse, so oft er sich damit konfrontiert sah, verursachte mehr Kopfschütteln als Haß. Freilich kommt die Auseinandersetzung mit dem Bösen seiner Menschenliebe in die Quere, aber jenes kann diese in ihren Grundfesten nicht erschüttern. Wie er an dieser Menschenliebe festhalt - nämlich nicht mit Grundsätzen, ob philosophischer oder theologischer Provenienz, sondern mit der Neugier des Beobachters verschiedener Leute — das macht den eigentümlichen Reiz dieses Buches aus, seine Originalität, den Unterschied zu anderen Büchern über die Lager. Zwar unterscheiden sich die ,,Gestiefelten“, wie schon erwähnt, kaum voneinander, doch es gibt eine Ausnahme: „der Rote Hahn, ein sogenannter Volksdeutscher namens Krämer, vielleicht siebzig Jahre alt“. Er ist die menschgewordene Bosheit schlechthin und bietet daher einen Anhaltspunkt, um zu fragen: Wieso eigentlich? Was geht in dem Kopf eines solchen Gestie Fred Der ‘Wander siebente Brunnen Cover Erstausgabe, Berlin und Weimar 1971. Das Buch erscheint Jetzt endlich wieder bei Wallstein in Göttingen. felten vor? Um diese Frage präzise stellen zu können, muß auch so ein Kopf einmal photographiert werden. Die begonnene Antwort bleibt im Halse stecken, auch wenn Wander Baudelaires „Blumen des Bösen“ zitiert. Denn die Reaktion des beobachtenden Ich ist noch immer vor allem Staunen. Nur Gesicht und Gesten des „Roten Hahns“ sind unvergeßlich, das heißt, das Bild des Bösen bleibt und zeigt keinen Satan und kein dämonisches Genie, vielmehr einen deutscher Rentner. Und wie bewährt sich die Menschenliebe in finsteren Zeiten? Ihre elementare Geste ist das Teilen von Nahrung: „das wahre Kennzeichen eines Freundes - er sorgt sich um dein leibliches Wohl! ‚Hast du denn heute schon zu Mittag gegessen?‘ ’ Am Anfang seiner Autobiographie sitzt der Erzähler im Zug nach Paris, und ein französischer Arbeiter teilt sein Frühstück mit ihm, dem Fremden, ohne Worte, da er noch nicht einmal die Landessprache beherrscht. Dieser Buchanfang ist eine Art Liebeserklärung an ein Land, das Fred Wander, trotz der sehr gemischten Aufnahme, die er dort erfahren hat, und die ja in einer Auslieferung mündete, ins Herz geschlossen hat. Doch in „Der siebente Brunnen“ ist der Umgang mit Nahrung viel zentraler geworden, denn für die Hungernden geht es dabei um Tod und Leben, und das Essen beherrscht auch die gesellschaftlichen Strukturen. Wie man im Lager Brot gegessen hat, erfordert ein ganzes Kapitel für sich. Die allerletzte Szene ist, ganz folgerichtig, eine Szene der Nahrungsteilung. Das letzte Kapitel heißt „Joschko und seine Brüder“, mit einer unmißverständlichen Anspielung auf den biblischen Joseph und seine Brüder. Letztere haben den ungeliebten jüngeren allerdings ins Verderben gestoßen. Bei Wander ist es umgekehrt. 15