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Asyl I Die Lehre der Geschichte ist einfach. Ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet (...), daß unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht. Hanna Arendt I Im Asyl der Worte dem abgespeckten, von Stürmen polierten die Drift der Willkür abwehrend, in wechselnden Abständen zur Sonne hast du zu leben gelernt; aber im Handumdrehen verdecken die blauen Flügel des Raben den Horizont, von dem wir nur wissen, daß er nicht einzuholen ist übers Meer fahrend, auf der Suche nach Festland, ein Alptraum für Flüchtende. Und im Staub der Nacht führt die Straße wohin? Gerüchte wehen wie vierblättrige Winde um die Ohren, Aas- oder Honiggeruch, der dir in die Nase steigt, dich lockt und lenkt zum Auftritt des Dirigenten im Tarnanzug und mit einem Gesetzestext im Anschlag, prallvoll mit Paragraphen: formosi nec sunt nec decentes. II Mit dem Wort versteht dieser sich ein Asyl zu bauen — aber was sind schon Worte ohne Taten, sagt jener. Und wer sagt schon mit dem Anspruch auf Aufruhr: Bis hierher und nicht weiter! Während die als Propheten Umworbenen in diskreten Vorstandsapsiden nicht nur deutlich sagen was sie wollen: Wir, Chief Operating Officers, verpflichtet dem Geist des Marathon, den Häuten und der Zucht des freien Marktes, sind dazu da, daß wir nicht nur reden: Die Sprache ist doch nur ein Versuchsballon für Feiglinge, ein Umweg des gestaltenden Willens. Und sie sagen: diese und jene Bank, BA-CA, soll profitabler werden, die „grenzüberschreitenden“ Geschäfte, die Rendite müssen steigen, von 8 auf 13 Prozent, und sie entscheiden und setzen frei, wie sie das nennen: Befreien Menschen von der Abhängigkeit ihrer Einkünfte, man gewährt ihnen, generös, die Freiheit, abzusteigen ins Nichts. IH In dieser Fäulnis, in der das Wort „Reform“ - großes Wort, zu dir beten und flehen wir, heischend und heiter — zur Keule wurde, Krebsfraß die Zellen der Sprache zerstört, erhöhen die Priester der Gier täglich die Dosis, die Ration an Zynismus: In den Think-Tanks bereiten sie vor systematisch von Arbeit und allen Dingen Entledigte, beseeltes Treibholz kreisend im Sog, der jeden modus vivendi verwüstet, Verdammte auf der Flucht vor vergifteten Lüften sich fügend, zum Absprung bereit. Das Wort bietet Asyl jedem Gedanken dem geradlinigen wie dem krummen es vermag nichts gegen getarnte Willkür und offene Gier. 22. Februar 2004. — formosi nec sunt nec decentes — „sind weder wohlgestalt noch anmutig“. Der Rabe gilt im Glauben vieler Völker als Unglücksvogel, der Tod und Krieg ankündigt. Raben sollen Land finden können, wenn sie übers Meer fliegen (Noah). Auch die im 9. Jahrhundert aussegelnden Wikinger sollen Raben an Bord gehabt haben, die ihnen Land anzeigten. Die Bank Austria Creditanstalt plant einerseits die Entlassung von 1.400 Angestellten, andererseits die Erhöhung der Eigenmittelrendite von 8 auf 13 Prozent. „Die BA-CA hat ein enormes Potenzial, denn sie hat mit Osteuropa die stärksten Märkte, die es gibt. Sind wir dort erfolgreich, können die Erträge stärker wachsen als in Bayern oder Österreich. (...) Jedes grenzüberschreitende Geschäft muss bei uns landen.‘ (Aufsichtsratspräsident Gerhard Randa am 2.2. 2004 in „Der Standard“). Am 28./29.2. 2004 schaltet die Bank eine ganzseitige Selbstdarstellung im „Standard“. Unter dem Titel „Österreichs größte Bank ist so stark wie nie zuvor“ wird das „grenzüberschreitende Geschäft“ konkretisiert: „Profitables Osteuropageschäft: Seit 2000 von 9 Milliarden auf 23 Milliarden Euro ausgebaut.“ Am 26. Februar steigt der Kurs der Telekom-Aktien (durch Marktmanipulation) plötzlich von 11,66 auf 11,73 Euro. Tags darauf fällt die Aktie wieder unter 11,70 Euro. Der Hintergrund: Das Optionsprogramm ergibt durch den Anstieg auf über 11,70 Euro ein Zubrot von 9 Millionen Euro für 98 Manager. Alle anderen Mitarbeiter und Angestellten von Telekom erhalten davon keinen Cent. Asyl II Aus den schwarzen Flecken der Morgendämmerung Wuchsen bei Tageslicht Gäste, Auf Kehlen und Brüsten rotgelb gefleckte, Die Köpfe wie mit Eisenspänen beschneit Und kastanienbraun ihre Rücken. Sie hocken im Schnee, gesellig, als Schwarm Unterm Apfelbaum, dessen Frucht Im Herbst Bauern und Passanten verschmähten. Die Drosseln aus dem Karst im Südosten, Wo der Wacholder in den blauen Himmel wächst, Wissen was der Schnee verbirgt. Trete ich vors Haus Zeigen sie, scheu wie sie sind, das Blaugrau Ihrer Bürzel und das flaumige Weiß der Unterflügel. Sie flattern in die Kronen benachbarter Birnbäume, Von dort sie jede meiner Bewegungen verfolgen. Ich mache es ihnen leicht, Kehre zurück in meine Höhle, Und durch das Fenster, aus der Mitte eines großen Schattens, Werde ich sie beobachten, wie sie Zurückkehren, einzeln, zögerlich, dann in Gruppen: Sind sie nicht schön, im frischen Schnee, Jenseits des Schwarzdorns, in fremder Umgebung, In ihrer Haltung so wachsam und aufrecht? 26. Februar 2004 Richard Wall, geb. 1953 in Engerwitzdorf (Oberösterreich), besuchte die Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz; Kunst- und Werkerzieher. Lebt in Katsdorf (Oberösterreich). Bücher: Ringsherum Schnee (Bremen 1987); Die Nacht wird kalt (Gedichte, Linz 1988); Sommerlich Dorf (Miniaturen, Weitra 1992); Schwellenlicht — Schattenbahn (Gedichte, Weitra 1995); Wittgenstein in Irland (Klagenfurt 1999); Stein- und Neonschrift (Gedichte, Baden 2000); Klemens Brosch oder Eine Eintibung ins Unmögliche (Klagenfurt 2001) u.a. 17