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anderen damals in der ganzen Stadt ablaufenden unterschied. Ein weiterer Vorfall trat mir noch deutlicher als jene Szene der Entdeckung unserer Gebetsbücher und Kunstbände mit den heidnisch Nackten ins Bewusstsein, die ja unter anderen Umständen noch einen komischen Aspekt gehabt hätte. Es war nämlich so, dass ich die ganze Zeit panische Angst hatte, die SA würde das „Souvenir“ meines Vaters aus dem Ersten Weltkrieg finden, eine Pistole, die er ohne erkennbaren Grund in seinem Schreibtisch aufbewahrte. Mein Vater, der sanfteste und friedfertigste Mann der Welt, hatte mich einst überrascht, als er mir von diesem Andenken erzählte, nicht ohne mir gleichzeitig einzuschärfen, es niemals anzurühren. Warum gerade er eine Pistole aufbewahrte, blieb mir ein Rätsel. Das Wunder jenes Besuchs der SA war, dass die Männer, die sonst alles durchsuchten, ausgerechnet die Schreibtischladen übersahen, wofür ihr Gruppenführer sie bestimmt bestraft hätte, wenn er davon erfahren hätte. Diese Szene sah ich all die Jahre später wieder plastisch vor mir, während ich so im 46er saß. Ich überlegte, ob ich aussteigen und die Besatzungstruppen rufen sollte — Österreich stand immer noch unter der Kontrolle der Alliierten, und wir befanden uns in der französischen Zone — aber ich verwarf diese Idee bald als unrealistisch. Den Mann gerade heraus vor allen anderen Passagieren mit dem Vorwurf zu konfrontieren, dass er vor Jahren unsere Bücher geraubt hatte, schien mir wenig erfolgversprechend, besonders da die Zeit der Besatzung schon ein paar Jahre andauerte und die Alliierten einiges an Elan verloren hatten; es war unwahrscheinlich, dass die Franzosen tatsächlich eingreifen würden. Nun schien auch das Objekt meiner Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, etwas gemerkt zu haben. Es wurde Zeit zu handeln. Sonderbar, wie einem in unerwarteten Situationen ganz unwahrscheinliche Dinge einfallen. Wie meine Aufmerksamkeit so zwischen dem Gesicht des Mannes in der Straßenbahn und den Szenen meiner Erinnerung hin- und hergerissen wurde, erinnerte ich mich unwillkürlich an einen Vortrag, den ich vor meiner Abreise nach Europa vor einer Gruppe Pensionisten in Florida gehalten hatte. Ich sprach dort über den deutschen Existenzialisten Karl Jaspers und sein bestechendes Konzept der „Grenzsituationen“. War ich jetzt gerade dabei, eine solche zu erleben? Jaspers betonte, dass einen derartige Momente herausfordern, ein anderer Mensch zu werden. Wir müssten entweder über uns hinauswachsen oder zu verlorenen Seelen werden. Doch dann drängte sich mir ein anderer Gedanke auf: Würde mein Vater, den ich wahrscheinlich damit „rächen“ wollte, das wirklich wünschen? Mein friedliebender Vater, der vergab, der die Sünde hasste, wie man so sagt, aber nicht den Sünder, der Gewalt kompromisslos ablehnte, der die Bestrafung der Sünden Gott überließ, der wie ein Buddhist glaubte, dass wir nicht für unsere Sünden bestraft werden, sondern durch sie gestraft sind, er würde in seiner vertrauten Art lächeln, meine Hand zum Ablassen, meine Stimme zum Schweigen bringen und sagen: „Nein, mein Sohn. Lass ihn in Ruhe.“ Wenn ich jetzt nichts tat, aus der Straßenbahn ausstieg, ohne zu handeln, wenn ich den Mann in Ruhe ließ, verriet ich dann meinen Vater? Rationalisierte ich bloß meine Feigheit? Oder wuchs ich — nach Jaspers — über mich hinaus? Oder blieb ich damit den Wertvorstellungen meines Vaters und mir selbst treu? Diese Fragen sollte ich noch wochen- und monatelang mit mir herumtragen. Ich stieg aus der Straßenbahn aus, und der Mann wunderte sich vielleicht. 20 War dies eine der schändlichsten oder besten Entscheidungen meines Lebens? Auch nachdem ich mich beruhigt hatte, dass meine Untätigkeit keine plumpe Rationalisierung war, erlitt ich immer wieder Rückfälle. Denn trotz meiner Überzeugung, mein Vater hätte mein Nichthandeln gutgeheißen, kamen mir gelegentlich Zweifel, besonders wenn ich wieder einmal Hamlet las; Zweifel nicht so sehr an der Billigung meines Vaters oder der Rechtfertigung meiner Passivität, sondern vielmehr daran, ob es richtig gewesen sei, den Übeltäter ungestraft entwischen zu lassen — als hätte ich durch meine Unterlassung eine höhere Gerechtigkeit aufs Spiel gesetzt. Aus dem amerikanischen Englisch übertragen und bearbeitet von Lotte Rieder. Robert Schwarz, geboren 1921 in Wien, besuchte Volksschule und Gymnasium in Wien-Ottakring. Er flüchtete 1939 nach Großbritannien, war 15 Monate Fabriksarbeiter. Ab 1940 in den USA, wurde ihm durch eine jüdische Wohlfahrtsorganisation das Studium in Atlanta ermöglicht; Doktorat 1952 in europäischer Geschichte, Fachgebiet Mittelalter. Verheiratet mit Bluma Bretstein, Psychologin und freie Schriftstellerin; eine Tochter. Schwarz lehrte in Pittsburgh und zuletzt Philosophie an der Florida Atlantic University in Boca Raton; seit 1989 im Ruhestand. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, an die 75 Artikel über europäische Geschichte, Philosophie und Ideengeschichte in Fachzeitschriften und Sammelbänden; zudem Verfasser von ca. 250 Rezensionen, 200 davon in „Books Abroad“ und „World Literature Today“. Korrespondent für die Wiener Zeitschrift „Medien und Zeit“. Literarische Publikationen u.a. in „Wespennest“, „Keschet“, „Jewish Affairs“. Buch: Sozialismus der Propaganda (Wien 1975). — Robert Schwarz, übrigens ein Cousin von Bruno Schwebel, lebt in Palm Beach (Florida).