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Immer will man weg, und wenn es keinen Namen hat, wohin man will, wenn es unbestimmt ist und man keine Grenzen darin sieht, so nennt man es Freiheit. Elias Canetti Anna hat keine bewußte Erinnerung an den Vater, der, als sie dreieinhalb Jahre alt war, im KZ Mauthausen ermordet wurde. Auch wurde dort, wo sie aufwuchs, nicht offen über ihn gesprochen. Doch gibt es ein paar Dinge, die ihr geholfen haben, sich ihm verbunden zu fühlen. Das eine ist ein kleines Photo, circa 1940, auf dem er sie, sein viertes Kind, als Säugling auf dem Arm hält; das andere, wenig später, ist ein gefaltetes Papier mit ihren ersten ‚Schreibversuchen‘ und einer Locke ihres damals kupferroten Haars; darunter steht ,,von meiner lieben Anni, 16. Januar 1941.“ Anna und ihre Geschwister wurden nach dem Tod des Vaters bei Verwandten und Pflegefamilien in Wien und in Deutschland untergebracht. Wenn jemand nach ihm fragte, sollte sie sagen: „Mein Vater war Schriftsteller, er ist im Krieg umgekommen.“ Auf weitere Fragen wie: „Gefallen?“ „Vermißt?“ „Gefangen?“ schwieg sie. Sie hatte das von der Mutter gelernt. Jahre später erfuhr sie, daß sie außer der jüngeren Schwester Regine, mit der sie bei Tante und Onkel in Deutschland aufwuchs, zwei ältere Geschwister in Wien hatte. Fast zwei Jahrzehnte später las sie in einem Brief der Mutter an eine Behörde, daß Ernst Schafer Jude war und „auf der Flucht erschossen“ worden war. Erst ein Vierteljahrhundert später, nach Auswanderung, Sprachwechsel und nach dem Tod aller Beteiligten, begann sie nach ihren jüdischen Wurzeln zu suchen. Was hoffte sie zu finden? Antworten auf Kindheitsfragen: Warum heißen wir Schafer und nicht Schäfer? „Druckfehler“, sagte jemand. „Ist wohl wienerisch“, jemand anderer. Warum weint Mutter immer, besonders, wenn sie gerade schrecklich laut gelacht hat? Später dann: Wer war der Vater? Wer seine Eltern? Geschwister? Was hieß Jude? Was war ein Schriftsteller? Und dann, wovor fürchtete sie sich? Wie er gestorben war? „Auf der Flucht erschossen?“ Wovor und wohin wollte er fliehen? Mit Hilfe vieler Behörden, Bibliotheken und Archive konnte Anna ein äußeres Gerüst von Ernst Schafers Leben zusammenstellen. Er wurde 1898 in Wien, Bezirk Floridsdorf, geboren. Sein Vater war Bahnangestellter. Beide Eltern entstammten jüdischen Familien aus Mähren. Seine beiden jüngeren Schwestern wurden 1901 und 1905 in Znojmo oder Znaim geboren. Ab 1913 ist die Familie wieder in Wien gemeldet. Das Hauptbuchblatt des Osterreichischen Kriegsarchivs vermerkt zwei Semester Musikstudium in Wien, ehe sich Ernst Schafer 1915 freiwillig zum Kriegsdienst meldet. In demselben Dokument steht, daß er 1917 wegen „Geistesstörung“ entlassen wurde. mulant“, hieß es anderswo. Weitere Lebensdaten sind einem Akt des cog F Archivs des belgischen Außenministeriums entnommen. Bei den Unterlagen befindet sich ein 22 Brief (B1) von 1935, ein Abriß seines bisherigen Lebens, in dem Ernst Schafer Angaben über seine Kriegs- und Revolutionsteilnahme — er nennt sie seine „Jugendtorheiten“ —, seine schriftstellerischen Anfänge in Wien und sein journalistisches Wanderleben durch Europa macht. Auch seine Taufe im Jahre 1925 erwähnt er. Anna findet das Grab der Großeltern, Philipp und Antonia Schafer, geborene Steinschneider, auf dem Wiener Zentralfriedhof -- Israelitische Abteilung. Sie berührt die Namen und Zahlen, auch die hebräischen. Großeltern! Mit Namen in Stein! Schafer ist kein Druckfehler. Das Märchen vom Froschkönig fällt ihr ein. „Es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen.“ Sie sitzt im Gras und weint. Regine, die Schwester, am Telefon: „Vergiß nicht, du mußt Steine hinlegen!“ Das Wiener Meldeamt und das Archiv der KZ Gedenkstätte Mauthausen liefern Daten über die letzten Jahre. 1936 geht Ernst Schafer nach Prag, dann nach München und schließlich zurück nach Wien. Dort wird er im August 1941 verhaftet und ein Jahr später an die Gestapo überstellt. Im September 1942 folgt die Überführung nach Mauthausen, wo er als „politischer Jude“ erschossen wird. Wie es sich fügte, war ein früherer Bekannter und Mithäftling bei Schafers Einlieferung und Tod anwesend. 1947 bestätigt dieser es in einem Brief (B4). Von einem „Rapportführer Trumme“ ist die Rede, von einem „Areal“, einer „Quarantäne“ einer dreitägigen schweren Mißhandlung des Häftlings und vom Zeitpunkt des Todes am 28. September 1942, „,... erschossen, nachmittags bei der Postenkette, wo er arbeitete.“ Und wieder an einem 28. September, genau 60 Jahre später, trafen sich Anna, Josef und Regine in Mauthausen. Maria war durch Vermittlung des Wiener KZ Verbandes bald nach Kriegsende als Achtjährige an die damals gerade eröffnete Gedenkstätte geführt worden. Das war also das Areal, die Quarantäne, der Judenblock 5, der Steinbruch mit der Todesstiege, da war auch die riesige Mulde vor der Lagermauer, in die die Asche der verbrannten Leichen tonnenweise gekippt worden war. Da waren Namen von Tausenden Menschen und Unmenschen, darunter Name und Bild des Unterscharführers Andreas Trumme, der, 22jährig für die ‚Fallschirmspringer‘-Aktionen in Mauthausen mitverantwortlich, 1947 von einem amerikanischen Tribunal zum Tode veruteilt und gehenkt wurde. Geheime Siaatspolizei Siaatspolizeiteitiette Wien Referat IT A 2 Su Ber, bb fee g Wien I, den Morjzinviag 4, 1.duni (A142 u . -# = s ae . Karteiblatt Ernst Israel Schafer der Gestapoleitstelle Wien: „auf der Flucht erschossen 28.9.42“