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lige Chefredakteur der Münchner Neusten Nachrichten, Fritz Gerlich, an dessen Zeitschrift Der gerade Weg Ernst Schafer zeitweise mitarbeitete. Gerlich, der sich von Hitlerfreund zu Hitlerfeind gewandelt hatte, wurde schon 1933 in Dachau im Zusammenhang mit dem Röhm-Putsch ermordet. Auch hier scheint eine hoffnungsreiche Nachfolge in Enttäuschung und Alleingelassensein geendet zu haben. „Du warst mein Schicksal Schafers ‚Flandernjahre‘, 1930 bis 1936, wurden vor allem von der Person des belgischen Dominikanerpaters Felix Morlion geprägt. Als Gründer der katholischen Filmzensur in Belgien und als sozialpolitischer Aktivist engagierte er Ernst Schafer für seine Filmpresseagentur DOCIP (Documentation Cinématique Presse), fiir die Schafer zwischen etwa 1932 und 1935 Filmund Theaterkritiken schrieb. In Charlie Chaplin und in Rätsel von Heideborcht, die beide in diese Periode gehören, wird ebenfalls das Thema Film behandelt. Pater Morlion ist einer der wenigen Namen, der während Annas Kindheit und Jugend „aus der Zeit“ genannt wurde. Einmal zeigte die Mutter eine Zeitschriftenseite mit Photo, auf der über Pater Morlion, abgebildet in geistlichem Ornat, berichtet wurde. Bei Nachforschungen im Archiv der DOCIP in Brüssel ist Anna diesem Artikel wiederbegegnet. Er ist von 1950 und zeigt den Dominikaner als Redner auf dem Katholischen Filmkongreß in Rom. Charlie Chaplin (Antwerpen, 1933, CH) wurde unter dem Pseudonym Ernst Sarnold veröffentlicht. Das Buch ist in flämischer Sprache geschrieben und mit einem Vorwort von Pater Morlion vesehen, in dem dieser es eine „poetische Begegnung mit Chaplin“ nennt. Hier stellt sich ein Autor/Erzähler als österreichischer Journalist vor, der sein Exil in der flandrischen Dünenlandschaft benutzen will, sein Buch über Charlie Chaplin abzuschließen. Bevor er es jedoch einer gutgläubigen Leserschaft übergibt, möchte er es probeweise einem Phantasiepublikum anbieten. So lädt er an vier Herbstabenden ‚Gäste‘ zu sich, um zu ihnen über Chaplins Filmkunst zu sprechen. Bevor er jedoch zum eigentlichen Thema des jeweiligen Abends kommt, bietet er Erzählmaterial der verschiedensten Art an: Exkurse, Betrachtungen, Parabeln, alles um die ‚Zuhörer‘ einzustimmen und sie — als verantwortungsbewußter Volkserzieher — zum Lernen und Weitergeben des Gelernten anzuregen. Hauptperson der Erzählung ist Chaplins Figur des kleinen Vagabunden, der als der moderne antiheldische Außenseiter dargestellt wird. Zu ihm gesellen sich andere Gestalten wie TjingTjang, der sagenhafte chinesische Kaiser und weltferne Ästhet, Nechletil, der böhmische Inhaber eines Raritätenkabinetts und Hungerkünstler aus dem Wiener Prater, dessen gescheite Geschäftsnachbarin mit ihrem Panoptikum, der wild daherredende, aber doch so ernsthafte expressionistische Straßenmaler und der Berliner Eierverkäufer, der seine Kundschaft mit höchst mysteriöser Ware traktiert. Alle stellen in ihrer Art den modernen Kunstbetrieb dar, für den Chaplins Filmwerk eine Renaissance bedeuten könnte. Chaplin verstehe es, die alte Trennung zwischen Kunst und Handwerk, hier Kunst und Technik, aufzuheben, wodurch beide, Kunst und Handwerk, erneuert würden. Besonders neu aber sei Chaplins Realismus der Darstellung. Er zeichne alltägliche Menschen, Schauplätze und Situationen und revolutioniere das Handwerk des Schauspielers durch seine unpathetische, unsentimentale Darstellungsform. Der Erzähler sieht in der Figur des „little tramp“ einen Schicksalsgenossen. Auch er, der so of mißdeutete Literatur- und Kunstkritiker, fühlt sich als Außenseiter einer verständnislosen, materialistisch orientierten Gesellschaft. Auch von ihm fordert diese Gesellschaft ein hohes Maß an physischer und psychischer Anpassung und Wendigkeit, um nur zu überleben. In einem Punkt jedoch fühlt er sich dem Filmkünstler hoffnungslos unterlegen, nämlich darin, mit Hilfe von dem, was ‚nur‘ Kunst ist, nicht nur zu überleben, sondern auch Anerkennung zu finden. Ich bin der Welt sehr böse. Chaplin ist es nicht! Wenn ich wie er mit zwei Semmeln einen Tanz aufführen könnte, um den ihn das Wiener Hofballett beneiden würde, wäre ich auch zufrieden. Aber ich verstehe nichts davon. (CH) Dieses ‚Semmelballet‘ aus Goldrausch (1925), in der der ‚Tänzer‘ Hunger, Kälte und Einsamkeit mit Kunst besiegt, bringt den Erzähler/Autor jedoch zu der entmutigenden Einsicht, daß ihm selber ein solcher Akt, nämlich das eigene Talent zur Meisterung der eigenen Daseinsnöte einzusetzen, bisher nicht gelungen ist. So zeigt das Ende der Erzählung wiederum einen Einsamen. Seine fiktiven Zuhörer wie auch seine Künstlergefährten Chaplin, Tjing-Tjang und Nechletil verlassen ihn: Ein trauriger Zug geht den kleinen Dünenweg entlang und verschwindet im Morgenrot. ... Wie allein ich nun bin! Wie allein wir alle sind! (CH) Hier wird Einsamkeit wohl als tragische Grundsituation des Menschen gesehen. Und dennoch - spricht hier nicht ebenfalls ein ‚komisch‘ Verzeifelnder, ein Clown, der, sich seiner Künstleraufgabe wohl bewußt, es dennoch nicht über sich vermag, sein romantisches Exil zu verlassen und seinen Künstlerkollegen in den kühlen Morgen der Realität zu folgen? Ernst Schafer sieht seinen und Chaplins Hauptberührungspunkt in ihrer gemeinsamen jüdischen Herkunft. (Chaplin wurde bis zu seinem Tod allgemein für jüdisch gehalten. Die For25