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dem Boden sich zuneigt, der Kremser Erde, wird er von Gras durchwachsen, Grashalme drängen durch die Aussparungen der Buchstaben und Ziffern wie durch Luftlöcher hinan ans Licht, haben sich längst in Büscheln über die Namen der letzten gelegt, als wollten die gelöscht sein — sie trotzdem zu lesen, hat man das Gras zu lüften, es beiseite zu schieben, über einen anderen Namen hin: zugedeckt von strohigem Gras wie von einer leichten Decke ein Rudolf Wasservogel. am Ende der Wiese verliert sich also die Spur der Kremser Juden, wie in Wasser taucht mit ihnen das Metallband in hohes Gras ein, von dem überspült. „Aber sag mir, mein liebes Herz — haben wir uns die Namenslisten nicht zu einem Gedenkgedicht werden lassen, indem wir ihnen in kleinen Schritten und zu ihnen nach vorne gebeugt, wie einem Kräuterbeet, entlanggegangen sind?“ „Und wir haben uns solch würdiger Gedenkstätte würdig erwiesen durch ein Absehen wovon? daß da, mein Lieber, einige der mit uns Eingetretenen diese heiligen Schriften wie einen Heuschober übersprungen haben, munter darüberhinweggestiegen sind wie über einen fürs Vieh bestimmten Almzaun!“ Berggasse und diesen Tag bei Regen beschließen, vor einem Gedenkbild für eine Fleischhauerei, in getilgten Tagen zugehörig gewesen dem Haus, in dem gewirkt hat jener eine, der beim Betreten englischen Bodens die Begriffene ‚Hoffnung‘, ‚Freiheit‘ und ‚Sterben‘ in einem Satz vereint hat: Ich hoffe, in Freiheit zu sterben! — zu der einen Seite des Eingangstors befindet sich, geisterhaft in die Ausmaße der ehemaligen Auslage vergrößert, deren verschwommene Schwarz-Weiß-Wiedergabe. der Name des Fleischhauers, Kornmehl, steht darüber, Fleisch sieht man an der Hinterwand hängen. und vor der Auslage steht, nicht im nachhinein hineinkopiert, sondern damals vielleicht für ein Stimmungsbild mitphotographiert, im Nebelniesel eine Frau mit Regenschirm, schaut in die wie auch sie zu einem Blatt Papier gewordene Fleischhauerei hinein — ein Teil dieses Hinterglasbildes geworden, samt dem Trottoir, auf dem nun wir beide ebenfalls unter einem Regenschirm stehen, wir aber hinter ihr und der Verglasung der von zwei Metallstäben dreigeteilten Photographie, gehört sie, gewiß längst nicht mehr am Leben, einem Tryptichon an, das miteinschließt die zugemauerte Tür. „Weißt du, was der schwerkranke Professor an Witz aufgebracht hat nach einer Hausdurchsuchung? Ich kann die SS nur jedermann empfehlen! S.F.“! Julian Schutting, geb. 1937 in Amstetten (Niederösterreich), studierte Fotografie, dann Geschichte und Germanistik in Wien; lebt als freier Schriftsteller in Wien. Zahreiche Auszeichnungen, u.a. Anton Wildgans-Preis (1983), Preis der Stadt Wien (1988), Georg Trakl-Preis (1989). Schreibt Erzählungen, Gedichte, Hörspiele, Libretti. Zuletzt: Nachtseitiges (Salzburg 2004). „Die Mentalität eines Volkes“, erklärt Igor, „erkennt man am deutlichsten daran, wie es Krieg führt. Die Deutschen lassen die Mordmaschine mit der Präzision eines Uhrwerks ablaufen, bis alles in Scherben fällt, die Amerikaner bomben im Namen von Freiheit das Territorium des Feindes zusammen und hissen auf den Trümmern ihre Fahne, und die Russen überrennen einfach den Gegner ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Das war während des Zweiten Weltkriegs so und ist in Tschetschenien nicht anders. Was zählt schon das Leben des Einzelnen in einem Land wie Russland?“ Igor ist ein russischer Schriftsteller, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt. Ich habe mit ihm an diesem Abend an einer Podiumsdiskussion teilgenommen. Nun sitzen wir in der einzigen zu dieser späten Stunde noch offenen Kneipe der Stadt, uns gegenüber der Journalist einer lokalen Wochenzeitung, die Bibliothekarin, die uns zu dieser öffentlichen Diskussion eingeladen hatte, der Präsident eines Kulturvereins und eine vor drei Jahren aus Nowosibirsk nach Deutschland zugewanderte Historikerin und Germanistin, die ebenfalls am Podium gesessen ist. Igor putzt seine Brille. Die Bibliothekarin runzelt die Stirn. Die Historikerin knabbert an den Fingernägeln. Der Journalist grinst. Schließlich durchbricht der Präsident des Kulturvereins das immer unangenehmer werdende Schweigen. Der Demokratisierungsprozess werde in Russland viel länger dauern, als man nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vermutet hatte, meint er. „Was für ein Prozess?“, fragt Igor, hebt die Augenbrauen und legt die Brille in eine Seitentasche seines Sakkos. „Die Eliten sind dieselben geblieben, an der Form der Machtausübung hat sich de facto nichts geändert.“ Deshalb sei die EU-Osterweiterung so wichtig, erklärt der Journalist. Irgendwann werde auch Russland beitreten. Europa höre nicht an der polnischen Grenze auf. Man könne viel gegen die EU sagen, aber sie sorge zumindest dafür, dass demokratische Grundregeln eingehalten werden. „Sie werden sich noch wundern!“, sagt Igor und lacht. ,, Wenn erst einmal Polen, Rumänen und Litauer die EU-Politik bestimmen, werden sogar die sanftesten Gutmenschen in Westeuropa den Eisernen Vorhang zurückwünschen.“ Nun ist die Stimmung verdorben. Die Bibliothekarin spricht von Angstmache und Rassismus, und der Präsident des Kulturvereins erzählt von seiner 1961 von einem DDR-Grenzsoldaten erschossenen Großmutter. Ich bin froh, dass niemand nach meiner Meinung fragt. Zuhören ist amüsanter! Igor zwinkert mir zu. „Diese Empörung ist rührend“, murmelt er. „Fast wie auf einer Versammlung der Jungen Pioniere, nicht wahr?“ Er dürfte vergessen haben, dass ich, im Unterschied zu ihm, nicht in der Sowjetunion aufgewachsen bin. „Die EU wird Russland nicht retten“, verkündet die Historikerin aus Nowosibirsk. „Kein Russe wird einen Bürokraten in Brüssel ernst nehmen. Für einen durchschnittlichen Russen ist der Westeuropäer wohlhabend und naiv. Man beneidet ihn, 31