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Fragt man einstige Schüler nach ihren Erfahrungen, danach, wie sie ihre Ausgrenzung und Vertreibung von ihrer Schule im Jahr 1938 erlebten, so verweisen sie oft darauf, „daß alles eigentlich schon viel früher begonnen hatte.“ „Die erste Vertreibung“, so erzählte mir Heinz Kienzl, der ehemalige Direktor der Nationalbank, „hat ja bereits 1934, unter Dollfuß begonnen, damals sind viele sozialdemokratische Lehrer, darunter auch jüdische, aus der Schule rausgeflogen, versetzt und pensioniert worden.“ Kienzl, Schüler des Gymnasiums in der Maroltingergasse, einer, wie er sagt, „sozialdemokratisch angehauchten Schule“, erzählte auch, daß ein Drittel seiner Schulkollegen bei der illegalen Hitlerjugend waren, „einer Organisation, die 1936/37 bereits überall präsent war, auf großen Widerhall stieß, nicht nur in der Schule, sondern auch in Kinder- und Schiilerlagern“. Daß diese „Kollegen“ darüber hinaus auch gegen das Gesetz verstießen, zeigt der Umstand, daß allein im Schuljahr 1933/34 1.340 Schüler wegen verbotener nationalsozialistischer Betätigung registriert und bestraft, wobei mehr als zwei Drittel dieser Vergehen, und das ist das interessante, an Mittelschulen geahndet wurden. Im gleichen Zeitraum wurden — ebenfalls im Bereich der Mittelschulen — 25 Schüler mit schärfsten Strafen belegt, nämlich mit dem allgemeinen Schulausschluß - und 150 mit dem lokalen“.' Und im Zeitraum von 1933-38 hat das Unterrichtsministerium nicht weniger als 2610 Straftaten nationalsozialistischer Schüler verfolgt, das waren 16 mal soviel wie die Zahl bei sozialistischen und kommunistischen Schülern.’ Natürlich war dem autoritären österreichischen Ständestaat viel daran gelegen, diesen nationalsozialistischen Aktivitäten durch eine außerschulische vaterländische Jugenderziehung Einhalt zu gebieten und sie zugleich durch eigene „Pflege des Volkstums“ überflüssig zu machen ; als zentrale Organisation dieser Erziehung fungierte daher ab 1936, abgesehen von diversen katholischen Jugendorganisationen, das „Österreichische Jungvolk“. Die Schule wollte vorrangig österreichisches Staatsbewußtsein vermitteln: „Sie hat“, heißt es etwa in der DeutschÖsterreichischen Lehrerzeitung, „als vornehmste Pflege unseres Volkstums Staatserziehung zu sein. Diese Erziehung muß ein Bekenntnis zu Volk und Staat sein, sie muß Erziehung zu wahrer Religiösität sein, zu wahrer Heimat- und Vaterlandsliebe, mit dem Endziel der vollen Hingabe an Volk und Staat.‘ Die Jugendorganisationen des austrofaschistischen Staates waren gleichsam das Praxisfeld, wo dergleichen autoritäre Tugenden eingeübt werden sollten; hier galt es durch Feiern, Appelle, Sportfeste, vormilitärische Übungen und Aufmärsche das Gemeinschaftsgefühl zu heben und die Jugend zur Hingabe an ein christliches, deutsches und freies Österreich, sowie zur willigen Einordnung und Pflichterfüllung zu erziehen. Doch war dieser Strategie der Abgrenzung nur mangelnder Erfolg beschieden. Viele der illegalen NS-Jugendgruppen waren nämlich — unterstützt von einer sympathisierenden Lehrerschaft — geschlossen dem „Österreichischen Jungvolk“ beigetreten und haben es regelrecht unterwandert. Was den Antisemitismus betrifft, so war die Haltung des autoritären Staates von einer außerordentlichen Ambivalenz gekennzeichnet. Bot der Ständestaat zahlreichen Juden und Jüdinnen, die aus dem Deutschen Reich geflohen waren, Schutz, so nahm umgekehrt die antisemitische Diskriminierung derartige Ausmaße an, daß die Regierung der Vereinigten Staaten intervenierte und Nahum Goldmann bereits im November 1934 bei Mussolini für die Juden Österreichs vorsprach.* Franz Theodor Csokor hat in einem Brief an den Schriftsteller Ferdinand Bruckner schon 1933 diese Ambivalenz treffend charakterisiert: „Gewiß auf dem Papier gibt es keinen Arierparagraphen in Wien, weil sich der ja in der Praxis selber versteht; daran ändern auch die paar Beschwichtigungsjuden nichts, die man schreiben läßt.“ Der Antisemitismus im Ständestaat war, wenn nicht im offiziellen Programm, so doch in dessen praktizierten Ideologie ständig präsent. Was das Schulwesen betrifft, so ist etwa an Emmerich Czermak zu erinnern, der 1929-32 christlichsozialer Unterrichtsminister war, und zwischen 1934 und 1938 das Amt des Präsidenten des niederösterreichischen Landesschulrates bekleidete. In seiner Broschüre „Ordnung der Judenfrage“ will er den Juden in Madagaskar eine neu Wohnstätte zuweisen, damit sie sich dort ein neues Leben aufbauen.‘ Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang auch der starke Einfluß des Nationalsozialistischen Lehrerbundes an dessen Spitze ein gewisser Max Fritz stand, der den NSLB bereits erfolgreich durch die Illegalität geführt hatte, und der nach dem „Anschluß“ als Gauwalter des NSLB sich selbst in die Funktion des Präsidenten des Stadtschulrates hievte.’ Ich möchte mich an dieser Stelle bei Ari Rath, ehemaliger Chefredakteur der Jerusalem Post, bedanken, der mir einen sehr wichtigen Hinweis gab. Er war Schüler im Wasagymnasium und hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß bereits während des Austrofaschismus, und zwar seit 1934, eigene „‚Judenklassen“ vom zuständigen Ministerium eingerichtet worden waren; Er selbst, so erzählte er, sei in so eine Klasse gegangen. Ich war damals ein wenig erstaunt und ungläubig. Tatsächlich aber stieß ich bei meinen Recherchen auf einen Erlaß des Bundesministerium für Unterricht vom 4. Juli 1934, damals war übrigens noch Dollfuß Bundeskanzler, der besagt, daß „auf Grund schulpraktischer Erwägungen ... bei Teilung von Klassen in Parallelzüge in Hinkunft so vorgegangen werde, daß die nichtkatholischen Schüler in je einer Klassenabteilung vereinigt und nicht mehr in zwei oder alle Parallelzüge einer Klasse aufgeteilt werden“. Mit den Nichtkatholischen waren natürlich in erster Linie die jüdischen Schüler und Schülerinnen gemeint, die ab nun, sofern sie zahlreich genug waren, oft auch mit den evangelischen in einem eigenen Klassenzug zusammen unterrichtet wurden. Das Dreiste daran war natürlich das Argument der sogenannten „schulpraktischen Erwägungen“. Damit konnte jederzeit darauf verwiesen werden, daß es wegen des Stundenplans „praktischer“ sei, mosaische Schüler von den katholischen zu separieren, damit der Religionsunterricht jeweils klassenweise organisiert werden konnte; das mochte nun in der Tat „praktischer“ und bequemer sein, bot zugleich aber auch einen Vorwand, um jüdische Schüler und Schülerinnen von den katholischen abzusondern. „Obwohl als offizieller Grund für diese Klassentrennung der Religionsunterricht angegeben wurde“, schreibt Ari Rath, „wurde damals den jüdischen Schülern klar 35