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In den kanadischen Lagern erhielten die Flüchtlinge im Gegensatz zu Großbritannien den Status von Kriegsgefangenen, was ihnen bessere Rechte sicherte. Es bestand die Möglichkeit, an den regulären Universitäten Prüfungen abzulegen. Die Lagerzeitungen berichteten nicht nur über die Lebensbedingungen im Lager, sondern auch über die allgemeine politische Situation und die militärische Lage. Wolfs Schulfreund Peter Stadlen hielt in einem Lager in Australien Vorträge über seine Wiener Lehrer Arnold Schönberg und Anton von Webern und arrangierte eine Aufführung von Händels „Israel in Ägypten“. Edmund Wolf kam am 3. Juli 1940 an Bord der „Ettrick“, auf der neben 1.307 Flüchtlingen auch 1.348 deutsche Kriegsgefangene waren, nach Kanada und wurde zunächst in der Provinz Quebec kaserniert. “... ich habe den Engländern nie übel genommen, daß sie beim Zusammenbruch Frankreichs aus Angst vor einer imaginären ‚Fünften Kolonne‘ Deutsche und, wie in meinem Fall, Österreicher in großer Zahl internierten und die Unverheirateten nach Kanada oder Australien verschifften; vielmehr bewundere ich noch immer, daß das britische Parlament in der allerdunkelsten Kriegszeit, als Großbritannien allein im Krieg gegen den scheinbar unbesiegbaren Nazi-Moloch stand, sich in Debatte um Debatte mit unserem Schicksal befaßte, bis das Home Office einen ausgezeichneten Beamten nach Kanada entsandte, der Fall um Fall eingehend prüfte. Bei meiner Akte lag ein Brief des britischen PEN-Klubs, dem ich schon damals angehörte; darin wurde den Behörden nahegelegt, daß ich zu Kriegwichtigerem zu gebrauchen sei, als Geschirr hinter Stacheldraht in Ontario zu spülen.‘ Seit der Versenkung des Schiffes „Arandora Star‘ durch Torpedos von einem deutschen U-Boot und Berichte über die Behandlung in den Lagern hatte sich die Haltung der britischen Öffentlichkeit zu den Internierungen geändert. Im Parlament wurde heftig debattiert, die Zeitungen „Times“ und „Manchester Guardian“ setzten sich für die Flüchtlinge ein. Im Endeffekt gab die Regierung zu, daß sich die Internierungspolitik als Fehlschlag erwiesen hatte. Im September 1940 begann man mit den Entlassungen, wobei in erster Linie jene Personen entlassen wurden, die bereit waren, einen Beitrag für die britischen Kriegsanstrengungen zu leisten.’ Edmund Wolf konnte seinen Plan einer Weiterreise in die USA nicht realisieren, da die amerikanischen Einwanderungsbehörden nur Visa für freie Personen ausstellten und außerdem verlangten, daß die Überfahrt vom einreisewilligen Ausländer selbst bezahlt werden mußte. Er kehrte daher nach London zurück und lernte auf der Heimkehrer-Party seine spätere Frau kennen, die Holländerin Rebecca Wijnschenk, die als Sekretärin für die Exilzeitung „Vrij Nederland“ arbeitete. Don’t bend the truth Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels hatte die enorme Breitenwirkung des Mediums Rundfunk erkannt und nutzte sie nicht nur im Inland. Der deutsche Reichssender sendete auf Kurzwelle auch ins Ausland. Die britische Regierung zögerte zunächst den seit 1932 bestehenden Auslandsdienst der BBC, der im Gegensatz zum Inlandsdienst aus öffentlichen Zuwendungen finanziert wurde, gleichfalls für Propagandazwecke zu nutzen. Als jedoch der britische Premierminister Neville Chamberlain nach seiner Unterredung mit Hitler in Berchtesgaden in einer Rundfunkansprache auf die akute Kriegsgefahr in Europa hinweisen wollte, erhielt die BBC am 27. September 1938 unerwartet die Anweisung, die Rede auch auf Deutsch, Französisch 40 und Italienisch auszustrahlen. Das war die Geburtsstunde des Deutschen Dienstes; von nun an wurden jeden Abend Nachrichten gesendet. Robert Lucas und Carl Brinitzer waren die ersten Mitarbeiter. Obwohl Goebbels’ Taktik auf den Propagandastrategien der Engländer im Ersten Weltkrieg beruhte, war Großbritannien bei seinem Kriegseintritt am 3. September 1939 hinsichtlich psychologischer Kriegsführung schlecht vorbereitet.® Premierminister Chamberlain hatte sich zu lange auf seine AppeasementPolitik konzentriert, die einen Krieg mit Deutschland ausschloß. In den ersten Kriegsjahren kam es oft zu Kompetenzstreitigkeiten. Erst im August 1941 erfolgte die Griindung des Political Warfare Executive, das die alleinige Zuständigkeit für alle Auslandsrundfunkaktivitäten erhielt. Der Deutsche Dienst sollte die „Stimme der Zivilisation gegen die Barbarei‘” sein. Im Gegensatz zu Goebbels setzten die Engländer auf Sachlichkeit und Seriosität. Mit Hilfe des Abhördienstes, dem u.a. auch die Österreicher Martin Esslin, gleichfalls Absolvent des ReinhardtSeminars, Ernst H. Gombrich und Georg Weidenfeld angehörten, war man über die jeweiligen Propagandastrategien des Feindes bestens informiert. Durch die Technik der Gegenüberstellung von früheren Aussagen mit der aktuellen Realität sollte eine Selbstentlarvung Hitlers erzielt werden. „Don’t bend the truth!“ lautete die Devise. Die aktive Mitarbeit deutschsprachiger Flüchtlinge wurde für die BBC unentbehrlich und ihre Zahl stieg von 150 Mitarbeitern im Jahr 1940 auf 550 im Jahr 1942." Man stellte hohe Anforderungen an die Mitarbeiter und ließ sie vor ihrer Anstellung genau überprüfen. Der Deutsche Dienst bot eine willkommene Beschäftigungsmöglichkeit für die Emigranten, unter denen sich viele Schriftsteller, Schauspieler und Regisseure befanden, und aufgrund der relativ guten Bezahlung den Weg „zurück in die Sphäre der gesicherten Bürgerlichkeit“." Führungspositionen wurden jedoch nur mit Engländern besetzt. Es gab sogar einen „Language Supervisor“ im Studio, der das Mikrofon abschalten sollte, wenn der deutsche Sprecher vom vorgegebenen Text abwich. Diese Schranke zwischen Engländern und Emigranten war für die meisten spürbar. Der Regisseur und Schriftsteller Berthold Viertel, der erst 1947 zur BBC kam, beschreibt die zwiespältige Situation sehr drastisch: „Die deutsche Abteilung dort war eine Art Ghetto jüdischer Emigranten, die sich plag Bush House, Sitz der Auslandsdienste der BBC. Aus: ‚Hier ist England‘ — ‚Live aus London‘. Das deutsche Programm der British Broadcasting Corporation 1938 — 1988. London: BBC External Services, S. 115.