OCR
Gedenkjahre haben es in sich. Nationale Jubelstimmung ist in den Jahren 1978, 1985, 1988 und 1998 in Österreich kaum aufgekommen. Vielmehr förderten die zu diesen Anlässen in Auftrag gegebenen Ausstellungen, wissenschaftlichen Forschungen und Buchpublikationen viel Bitteres und Ungelöstes zu Tage. Den ÖsterreicherInnen fiel es von Mal zu Mal schwerer, sich einer widerspruchsfreien Identität und einer heilen Heimat zu versichern. Hinter treu sorgenden Eltern und Großeltern kamen frühere Nationalsozialisten, unter satten Wiesen Massengräber zum Vorschein. Eigentlich hat sich Österreich erst seit den 1980er Jahren aus der jahrzehntelangen Verkrampfung, die eine Folge des Nationalsozialismus war, zu befreien begonnen. Verleugnung, Verdrängung, Verantwortungslosigkeit sind in Österreich nicht mehr so allgegenwärtig wie in den 1950er und 1960er Jahren. Die Wahrheit darf gesagt, das Dunkel erhellt werden. Viele ÖsterreicherInnen haben dies in der Tat als Befreiung empfunden, und als Erleichterung. Andere wieder verkraften die damit einhergehenden Einbußen an nationaler Selbstsicherheit nur ungern und knüpfen lieber an die 1950er und 1960er Jahren an, beschwören den Geist der „Wiederaufbaugeneration“ und die vorgebliche Sauberkeit und Gediegenheit der damaligen Verhältnisse. (Die Gastarbeiter kamen erst Mitte der 1960er Jahre ins Land; und um einen Juden zu sehen, mußte man als Jude in den Spiegel schauen.) Im ,,Gedankenjahr 2005“ scheint man den Verunsicherten entgegenkommen zu wollen. Bei manchem, das zur Hebung nationalen Selbstgefühls und Bestärkung der Tradition veranstaltet werden soll, fühlt man sich an die Bürger von Schilda und ihre Streiche erinnert. Kriegsnot war, und die Bürger von Schilda fürchteten um ihre Kirchenglocke, deren Klang sich für sie von dem aller anderer Glocken unterschied. So verluden sie die Glocke auf ein Boot und versenkten sie im See. Wo sie sie hinunterließen, machten sie eine Kerbe in die Bootswand. Irgendwann vergaßen sie die unauffindbar gewordene Glocke und begannen in ihrer Kerbe das eigentlich Bedeutsame zu sehen. Wie sperrig das Terrain der ersten Nachkriegsjahre war, zeigt Otto Binders Bericht über den ehemaligen Finanzminister Rudolf Neumayer. Aus dem Exil in Schweden zurückgekehrt, war sich Binder der praktischen Schwierigkeiten eines Neuanfangs in Österreich bewußt, ohne damit irgendetwas entschuldigen zu wollen. Der KZ-Überlebende Felix Gutmacher seinerseits legt Zeugenschaft über das ab, was damals kaum vorbei war. Gutmacher ist Belgier. Es ist gerade in diesem Gedenkjahr wichtig, über den nationalen Topfrand hinauszuschauen. Über den nationalen Topfrand längst hinaus sind die AutorInnen, die aus der Türkei, Kroaten, Rußland, Polen, Rumänien gekommen sind und nun in deutscher Sprache, der „Verborgten Sprache“, schreiben - einige stellen wir in diesem Heft vor: Ihre Sicht der Dinge, kulturellen Hintergründe und Erfahrungen bereichern die Literatur der Gegenwart. Stolz sind wir, in diesem Heft bisher Unbekanntes über den Komponisten Arnold Schönberg veröffentlichen zu dürfen — Pläne, die er nach seiner Flucht aus Deutschland schmiedete, Pläne, die nach 1945 an ihn herangetragen wurden. Er aber blieb und starb im Exil. Die Kenntnisnahme der Taten und Gedanken derer, die einst Widerstand leisteten, und der Leistungen und Schicksale derer, die ins Exil getrieben wurden, bietet die Chance einer neuen, bereichernden Erfahrung, zu einer Erweiterung des Weltbildes, zu fruchtbaren Kontakten. Hier ist nicht nur eine Verpflichtung zu erfüllen, sondern ein Schatz zu bergen. — Die Herausgeber Theodor Kramer Preis 2005 an Georg Stefan Troller Der mit Euro 7.300,- dotierte Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil geht heuer an den in Paris lebenden Georg Stefan Troller. Troller, für seine Fernsehdokumentationen und Drehbücher wiederholt ausgezeichnet, wird damit erstmals für sein umfangreiches schriftstellerisches Werk geehrt. Troller, geb. 1921 in Wien, flüchtete 1938 in die Tschechoslowakei, gelangte dann nach Frankreich und in die USA, ehe er sich 1949 in Paris niederließ und als Radio- und Filmjournalist tätig wurde. Troller verstand es, von seinem Standort außerhalb Österreichs doch auch auf die Selbstverständigung der ÖsterreicherInnen über ihre jüngste Geschichte nachhaltig Einfluß zu nehmen, vor allem durch seine in Zusammenarbeit mit Axel Corti verwirklichte Filmtrilogie „Wohin und zurück“ (1985). In seinen Schriften erweist sich Georg Stefan Troller nicht nur als ein kluger Beobachter, der sich auf präzise Notation versteht, sondern auch als ein unerbittlicher Kritiker österreichischer Nachkriegsentwicklungen, in denen sich oft genug unter Berufung auf den Opferstatus Österreichs (als von Hitlerdeutschland besetztes Land) gerade jene Haltungen reproduzierten, die eher einer Mittäterschaft an den Verbrechen des Nationalsozialismus entsprachen. In seinem im Vorjahr erschienenen vorläufig letzten Buch, „Das fidele Grab an der Donau“, zeichnet er die vielfältigen intellektuellen und literarischen Einflüsse und Strömungen nach, die ihn im Wien vor 1938 als Heranwachsenden anzogen und prägten. Die Vergegenwärtigung des Verlorenen erhebt Einspruch gegen umstandsloses und selbstgefälliges Sich-Abfinden mit dem Geschehenen, erinnert an die kulturelle Verödung, die durch Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Intellektuellen und KünstlerInnen entstanden ist. Leo Katz: Totenjäger. Roman 405 S. ISBN 3-901602-22-4. Euro 28,00 Erhältlich ab April 2005 im Buchhandel oder direkt beim Totenjäger Roman Rimbaud