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Eingriffen in den Personalbestand der Anstalt. Die Auswirkungen dieses Verfahrens, durch welches ein Teil der Angestellten außer Dienst gestellt wurde, der größte Teil von ihnen aber früher oder später als „entnazifiziert‘“‘ wieder zurückkehren durfte, sind heute schwer zu beschreiben. Der Krieg hatte dazu geführt, dass viele Frauen, Modistinnen, Schneiderinnen, Hausgehilfinnen, berufslos geworden waren. Sie wurden, obwohl ihnen jede berufliche Qualifikation fehlte, ,,dienstverpflichtet“, um den durch die Aushebungen entstandenen Aderlaß in der Wirtschaft auszugleichen. Die Unternehmen erhielten das Recht, diese Zwangsarbeiterinnen nach Kriegsende ohne jeden Anspruch wieder zu entlassen. Auch die „Städtische“ erhielt eine heute nicht mehr abschätzbare Anzahl solcher Kolleginnen. Es kam jedoch anders als geplant. Als der Krieg zu Ende war, wurden diese Arbeitskräfte dringend gebraucht. Die „Städtische“ hatte im Zuge der Fusion mit der „Wechselseitigen“ ihre beide Bürohäuser, ihr Stammhaus Tuchlauben 8 und das Haus am Luegerplatz, verkauft und dafür das sogenannte „Neue Bristol“ an der Ringstraße erworben. Bei den Schlusskämpfen um Wien ging dieses Haus in Flammen auf, mit seinem ganzen Inhalt, mit allen Archiven und Aufzeichnungen, mit dem ganzen Versicherungsbestand. Die Anstalt kam zuerst mit Mühe bei ihrer Krankenversicherungstochter in der Canovagasse und dann in ihrem alten, aber nun angemieteten Quartier Tuchlauben 8 unter. Und nun musste sie, mit diesen armen Teufeln, in ungeheizten Räumen, Wien 1, Tuchlauben Nr. 8, das frühere Stammhaus der Wiener bei zerschlagenen Fensterscheiben, schlimmsten Verkehrs- und Städtischen, um 1900. Foto: Wiener Städtische Versicherung Sicherheitsverhältnissen und ärgstem Hunger, die Rekonstruktion des Versicherungsbestandes beginnen. Noch im März 1947, als ich zum ersten Mal die „Städtische“ besuchen konnte, redete man in der Anstalt, wie eigentlich in ganz Wien, vor allem über die Zeit nach dem Kriege. In erster Linie stieß ich auf den kaum überstandenen Hunger und bei allen meinen Besuchen auf das Trauma der „Stalinerbsen“, mit denen die Wiener vor dem völligen Verhungern bewahrt worden waren. Ich glaubte immer zu verstehen, warum diese Notzeit, bei meinen ersten Besuchen im März 1947 aber auch noch später, warum die tägliche ,,Russenplage“ so im Vordergrund standen und in den Erzählungen, die ich in der Anstalt über die Nazi-Zeit erhielt, die Schreckensperiode unter dem Nazi-Regime schon Vergangenheit war und warum in den Gesprächen mit dem Besucher, der aus dem“ Paradies Schweden“ kam, von der Nazi-Periode eher das Lächerliche, Skurrile, Absurde übrig blieb. Vielleicht lag in dieser Haltung auch ein Stück Galgenhumor. Aber noch Ende der Sechzigerjahre, als ich schon eine ganze Zeit Generaldirektor war - ich war mit 1. Jänner 1959 Vorstandsvorsitzender geworden -, bestand unsere damals größte Abteilung, die Inkasso-Abteilung mit ca. 70 Beschäftigten, aus diesen ehemaligen „Dienstverpflichteten“, die nun für die innerbetriebliche Weiterent- Blick vom Dach des Hauses Tuchlauben 8 in Richtung des kriegsbeschädigten wicklung, nicht zuletzt auch für Anstalts- Stephansdoms, 1946. Foto: Wiener Städtische Versicherung