mayers Prozessakt anzusehen, war eine Behauptung in dem
Eingangs erwähnten Artikel in der „Wiener Zeitung“, dass im
Volksgerichtsprozess Neumayer von den Zeugen aus der Ersten
Republik ein gutes Zeugnis ausgestellt worden war, die Mitar¬
beiter der „Wiener Städtischen“ ihn dagegen sehr belastet hät¬
ten. Davon hatte ich weder bei meinen ersten Besuchen bei der
„Städtischen“ noch später irgendetwas gehört. Ich wollte nun
vor allem selbst wissen, wer diese Zeugen gewesen waren. Ich
müsste sie doch gekannt haben, sie mussten nach meiner Rück¬
kehr zur „Städtischen“ im September 1949 und wohl noch vie¬
le weitere Jahre meine allernächsten Kollegen, meine al¬
lernächste Umgebung gewesen sein?
Das Milieu in der „Städtischen“
Doch zuerst einige Bemerkungen zu den Personen und zur
Situation, auf die ich bei meinen ersten Besuchen im März 1947
in der „Wiener Städtischen“ traf.
Aufgenommen wurde ich mit allergrößter Freundlichkeit.
Den Wiener Kollegen war ich bis dahin allerdings persön¬
lich wenig bekannt gewesen. Man kannte mich als Salzburger
Kollegen. Man wusste, dass ich 1934 aus politischen Gründen
inhaftiert gewesen und infolgedessen aus der „Städtischen“ frist¬
los entlassen worden war — mein Entlassungsschreiben war 1934
zufälligerweise ja von Schärf geschrieben worden. Seinem
Dienstposten in der Organisationsabteilung hatten die „Lan¬
desstellen“ unterstanden. Einige wussten also von meinem po¬
litischen Engagement. Ein kleiner Kreis wusste wohl auch von
meiner engen Freundschaft mit dem hochverehrten, in Buchen¬
wald ermordeten Kollegen Hans Kunke. Josef Sterk hatte mir
als Betriebsrats-Obmann — zur Zeit meiner Besuche im Jahre
1947 war er allerdings nicht mehr in der Anstalt, sondern außen¬
politischer Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“ geworden - schon
vorher einen von mir in meiner Autobiografie abgedruckten Brief
geschrieben, der als Entscheidungshilfe für eine Rückkehr zur
„Städtischen“ gedacht war.’ — Meine KZ-Haft galt damals je¬
doch als kein außergewöhnliches Merit, anders als in der heu¬
tigen Auffassung. Es gab viele andere mit ungleich längerer
„Erfahrung“ auf diesem Gebiet. Aber vor allem erweckte es
Aufmerksamkeit, dass ich als Angestellter der schwedischen
Versicherungs-Genossenschaften kam und recht enge Bezie¬
hungen zu einigen Leuten im Haus wie auch zu Norbert Lieber¬
mann hatte, der zu dieser Zeit noch in Philadelphia war und auf
die Ausreisebewilligung nach Österreich wartete.
Eine wirkliche Leitung der Anstalt im heutigen Sinn konnte ich
eigentlich nicht ausmachen. Die Hierarchie der Anstalt wirkte
sehr unscharf und diffus. Heute, bald sechzig Jahre nachher, wür¬
de ich sagen, dass es viel mehr vom persönlichen Gewicht des
Einzelnen, von seinem Ansehen und von dem ihm zugehöri¬
gen Sympathisantenkreis abhing, ob und was jemand zu reden
hatte, als von der formalen hierarchischen Position. Empfangen
wurde ich vom „Öffentlichen Verwalter“ Josef Anderle, zuvor
und auch danach Leiter der (späteren) „Autokredit“, von Dr. Paul
Schärf, dem informellen Repräsentanten des Hauses und eine
Art politischer Verbindungsmann, den Betriebsräten Robert
Kristen und Andreas und nicht zuletzt von Johann Stornigg, der
in all den Jahren der beiden Faschismen so etwas wie ein „Rocher
de bronze“ der „Wohlgesinnten“ gewesen war, der die Leute
zusammengehalten und ihnen, sofern er konnte, geholfen hat¬
te. Stornigg war es auch, der im Rathaus die Rückberufung
Liebermanns betrieben und nach mehr als einem Jahr erreicht
hatte. Kontakt bekam ich auch zu dem ehemaligen Chefma¬
thematiker Wilhelm Klein, der — während der Nazi-Zeit wegen
seiner jüdischen Ehefrau degradiert und in die Canovagasse zur
Krankenversicherung ins „Exil“ geschickt — nun wieder die
Leitung der Lebensversicherung inne hatte und gleichzeitig als
Stellvertreter eines noch nicht vorhandenen Generaldirektors
fungierte. Die sicher auch sehr diffuse Position Paul Schärfs be¬
ruhte nicht nur auf seiner eigenen politischen Vergangenheit,
sondern auch auf seiner alten Verbundenheit mit Beppo Afritsch,
der nunmehr Wiener Stadtrat war, Karl Waldbrunner, dem star¬
ken Industrieminister jener Zeit, und vor allem auf seiner
Verwandtschaft mit Dr. Adolf Schärf, nun sozialistischer Partei¬
obmann und Vizekanzler.
Für meine Beurteilung Rudolf Neumayers waren nicht al¬
lein die vielen — und vielfach grotesken — Geschichten, die ich
aus diesem Kreise hörte, maßgebend, sondern ganz besonders
die Beurteilungen durch die Damen Greiner und Brunnauer.
Johanna Greiner war eine ehemalige Schülerin von Eugenie
Schwarzwald — was im damaligen Wien eine besondere „Marke“
bedeutete: gebildet, emanzipatorisch, „gschnappig“, aber auch
etwas konservativ und kritisch. Sie war bereits in der Ersten Re¬
publik Liebermanns Sekretärin gewesen und hielt sicherlich auch
nach 1934 den Kontakt zu ihm und seiner Familie aufrecht. Es
war das liberale jüdische Bildungsbürgertum, das seine Töch¬
ter in die Schwarzwald-Schule geschickt hatte, und es war wohl
bezeichnend für Liebermann, dass er sich seine erste Sekretärin
aus dem Kreis der „Schwarzwälderinnen“ geholt hatte.
Hermine Brunnauer kam durch die Fusion mit der ,,Wech¬
selseitigen“ ins Sekretariat. Beide Frauen bildeten von Anfang
an und bis zu ihrer Pensionierung, auch in den für sie oft nicht
leichten Zeiten, ein festes Bündnis. Sie gehörten mit etlichen
Anderen zu jenem Kreis von Personen, der zwar bei weitem kei¬
nen Widerstand im politischen Sinn betrieben, die aber bei den
unter dem Regime Leidenden den Rufhatten, in „Ordnung“ ge¬
blieben zu sein.
Das heißt: Sie gehörten zu den Leuten, die auch in diesen
Zeiten der Not, der Verfolgung und der Repression zusammen
hielten. Wie mir Dr. Margarethe Dostal, die Tochter Johann Stor¬
niggs, erzählte, gab es auch so etwas wie einen lockeren Kreis
umd die Storniggs, zu dem Hannerl Greiner mit ihrer Schwes¬
ter, der späteren Primaria des Wiener Schulzahnwesens, Josef
Anderle, Wilhelm Klein, der Leiter der EHU-Abteilung (EHU
—Einbruch, Haftpflicht, Unfall) Albrecht, sowie Fritz Kollisch,
der spätere Leiter der Maschinen- und Transportsparten, gehört
haben, und ein oder das andere Mal dürfte auch Norbert Seid¬
mann bei ihnen aufgetaucht sein, was sicher für alle nicht un¬
gefährlich war. Zumindestens gegen Ende des Krieges dürfte
Seidmann (Jude, mit „Arierin‘“ verheiratet) als U-Boot gelebt
haben. In Storniggs Haus am Scheiblingstein habe man sich auch
viele Gedanken über das Nachher und viele Sorgen über die
„Verschwendungspolitik“ Neumayers gemacht, wobei heute
nicht mehr klar ist, was Stornigg damit gemeint hat. Ich ver¬
mute im übrigen, dass auch ein derartiger lockerer Beziehungs¬
kreis um Schärf, Robert Kristen, später unser langjähriger
Betriebsrats- und Gewerkschaftsobmann, und Franz Miletitsch
entstanden war, als sie sich, schon gegen Ende des Krieges, in
der gleichen Hietzinger Kaserne trafen.
An Liebermann dürfte man gedacht haben. Man wusste aber
nicht, ob er noch lebte. Eher hoffte man auf Eduard Hoffmann
als künftigen Leiter. Hoffmann war ursprünglich deutschna¬
tionaler Burschenschafter gewesen, bürgerliches Aushängeschild
der „Städtischen“, trotzdem engstens mit Liebermann befreundet,