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Chef der Abteilung, die man heute als Verkaufbezeichnet. Auch er muss bald nach 1934 aus der Anstalt hinausgedrängt worden sein. Aber dann zeigte sich zum Entsetzen seiner Freunde, dass der Unglückliche im November 1944 ein Ansuchen um Aufnahme in die NSDAP gestellt hatte und somit unter das Entnazifizierungsgesetz fiel. — Er war nicht das einzige Beispiel einer nach heutigem Verständnis unbegreiflichen Blindheit und Naivität. Sie war nicht erst später, sondern auch damals unbegreiflich — vielleicht eine Folge des totalen Meinungsmonopols einer Diktatur. Auch eine der heute wohl schwer verständlichen Facetten der damaligen Atmosphäre: Es entsprach Hoffmanns burschikoser Art, dass er mir anlässlich eines Telefongesprächs erzählte, am Vormittag habe er - als „Minderbelasteter‘ — am Graben Rossknödel aufzuklauben, um am Nachmittag dann in die „Zürich“ zu gehen, auf ,,den Dr. Theiss“ aufpassen. Dr. Theiss war der neue Leiter dieses Unternehmens, der den Schweizer Eigentümern noch nicht genügend bekannt war. Nach dem Krieg wurde, wie schon erwähnt, Josef Anderle mit der im Falle der „Städtischen“ eher formellen Funktion des „Öffentlichen Verwalters“ betraut, während Stornigg und Klein, der übrigens kein Sozialdemokrat war, die Aufgabe übernahmen, die Entnazifizierung in der „Städtischen“ durchzuführen. Dass Wilhelm Klein die provisorische Leitung der Anstalt übernehmen solle, war auch in diesem Kreis besprochen worden. Es ist mir übrigens erst jetzt, nach fast 68 Jahren aufgefallen, dass die „Entnazifizierung“, die doch auf Grund von Gesetzen überall durchgeführt werden musste, weder bei meinen ersten Besuchen im März und Oktober 1947 noch später jemals von irgendjemandem im Hause erwähnt wurde. Dieser, für das ganze Leben in Österreich damals so einschneidende Vorgang, der die persönlichen Bereiche der Menschen tief berührte, war sicherlich für keine Seite angenehm. Sie war kein Gesprächsthema, in ihren Auswirkungen war sie aber auch für mich noch sehr viele Jahre präsent. Es war für die, die weiter miteinander leben und arbeiten mussten ein Thema voller Peinlichkeiten, über welches man lieber wie über manches andere — schwieg. Man soll sich die damalige Situation, das Wieder-Hineinfinden in den Alltag nicht zu einfach vorstellen: Einige Kollegen, unter anderen Hans Just, Josef Wipplinger und der spätere Gewerkschaftsekretär Theodor Heinisch, waren, zu langen Haftstrafen verurteilt, in Stein gesessen, und im Hause selbst war das Nazi-Regime vor allem durch einen Herrn Stanno, dem Leiter der NBO (,,Nationalsozialistischen Betriebsorganisation‘), kraftig vertreten gewesen. Die Damen Greiner und Brunnauer bildeten das Vorstandssekretariat in der schwarzen Ara. Sie blieben es auch unter Rudolf Neumayer, dann wieder unter Norbert Liebermann und schließlich unter Paul Schärfund mir. An der aufrechten Haltung der beiden Frauen habe ich nie irgendeine Kritik gehört, und ich selbst habe nie an ihrer Urteilsfähigkeit gezweifelt. Das Bild, das ich von ihnen, Paul Schärf und anderen von Rudolf Neumayer bekam, sah ungefähr so aus: Ein Mann, der das „Goldene Parteiabzeichen“ für seine Verdienste um die Überführung des österreichischen Finanzwesens in das des Dritten Reiches erhalten hatte — obwohl er kein Parteimitglied gewesen war. Dass er, wie aus dem Prozessakt hervorgeht, 1943 um die Mitgliedschaft bei der NSDAP angesucht hatte, dies aber, wie er dem Gericht schilderte, erwartungsgemäß abgelehnt worden war, dürfte den Kollegen der „Wiener Städtischen“ entgangen sein. Neumayer begründete seinen Antrag um Parteimitgliedschaft damit, dass dieser im In Norbert Liebermann, geb. 28.11. 1881 in Drohobycz (Galizien), kam bereits als junger Mann nach Wien, arbeitete zuerst als Zeitungsausträger, dann als Fremdsprachenkorrespondent und zuletzt Prokurist in der Versicherungsgesellschaft „Atlas“, die später vom „Phönix“ aufgekauft wurde, aktiv in der Gewerkschaftsorganisation der Versicherungsangestellten und 1907 Mitbegründer von deren Krankenkasse. 1922 wurde er von Stadtrat Hugo Breitner zur Reorganisation und Sanierung der Kaiser-Franz-Joseph-Lebens- und Rentenversicherungsanstalt berufen, die er in die „Gemeinde Wien — Städtische Versicherungsanstalt“ umwandelte. Generaldirektor bis 1934, wurde er nach den Februarkämpfen kurzzeitig verhaftet und zwangspensioniert. Er versuchte, sich in Paris als Versicherungsmakler zu etablieren; im März 1938 war er zufällig bei seiner Familie in Wien und wurde dann im Zuge des Novemberpogroms nach Dachau deportiert. Nach einigen Monaten wieder frei, gelang ihm 1939 die Ausreise nach Kuba, wo er in Havanna vergeblich auf ein Visum für die USA, wo seine Familie Zuflucht gefunden hatte, wartete. Der Wiener Bügermeister und spätere Bundespräsident Theodor Körner setzte sich im Verein mit einem Teil der leitenden Angestellten der Versicherung, vor allem Johann Stornigg, für seine Rückkehr ein. 1947 wurde er wieder Generaldirektor der „Wiener Städtischen Wechselseitigen Versicherungsanstalt“. Norbert Liebermann starb am 7. Jänner 1959 in Wien an einem Herzinfarkt. teresse des Unternehmens gewesen sei, d.h. er stellte ihn als einen im Interesse der Versicherung unvermeidlichen Kotau dar. Was ich ihm glaubte, denn es gab zu diesem Zeitpunkt wirklich für Leute wie ihn eine Aufnahmesperre. Des öfteren hörte ich über Rudolf Neumayer die Bemerkung, „er hat nie jemandem wirklich weh getan“. Das habe ich aber nie so verstanden, dass er es auf Befehl nicht getan hätte.