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großen Teil von der „Städtischen“ übernommen werden. Auch an der Verwaltung dieses neuen Gebildes musste sie durch die Überlassung des Buchhaltungschefs Oskar Samsinger teilnehmen. In Aufsichtsrat und Vorstand saßen jedoch statt Vertretern der „Städtischen“ Repräsentanten der Stadt Wien. — Ich habe in der „Städtischen“ immer nur zufriedene Stimmen darüber gehört, dieses Engagement später wieder losgeworden zu sein. Man hat dies nie als Verlust empfunden. Als ich im Herbst 1949 Mitglied des Vorstandssekretariats der „Städtischen“ wurde, stand ich vor der Aufgabe, mir meine Ressorts selbst aufzubauen. Eines davon wurde die systematische Branchen- und Konkurrenzbeobachtung, insbesondere des sogenannten „Deutschen Eigentums“, also des ehemaligen deutschen Besitzes, und des „deutschen Eigentum“ (des von deutschen Staatsangehörigen in Österreich erworbenen Eigentums), sowie des Vermögens der „ehemaligen nationalsozialistischen Partei und ihrer Gliederungen“. Zu letzerem Komplex gehörten im Versicherungswesen Övag und Volksfürsorge. — Dabei stieß ich auf einen Vorgang, den ich erzählen möchte, weil er weder in der „Versicherungsgeschichte“ noch in der FeldmanUntersuchung erwähnt wird, und weil er eine besonders originelle Facette des Raubs und der Ausbeutung darstellt. Als der „Phönix“ im Jahre 1936 zusammen gebrochen war, gab es für die Verpflichtungen aus dem österreichischen Lebensversicherungs-Bestand keine Deckung mehr. Bei der Rekonstruktion als Övag wurden als Ersatz staatliche Zertifikate geschaffen, die zu „‚Werten‘“ gemacht wurden, indem durch Gesetz die Verzinsung und Amortisation dieser Papiere durch einen Prämienzuschlag auf alle österreichischen Versicherungs-Verträge aufgebracht werden sollte. 1938 ging die Övag in den Besitz der Deutschen Arbeitsfront, also der NSDAP, über, und die ließ die Leistungen zu diesem Versicherungsfond auf alle deutschen Versicherer und damit deren Publikum ausdehnen. Das muss recht bald zu sehr üppigen Reserven geführt haben. Und das gab Gelegenheit zu einem neuen Raubzug. Bei meinen Recherchen über das Schicksal der Övag fand ich in einem älteren Exemplar des „Finanzkompaß“ eine Darstellung, nach der „die Reserven der Övag unnötiger Weise hoch geworden waren“ und man deshalb beschlossen habe, „eine Rückzahlung des unnötig hohen Kapitals“ an die Aktionäre vorzunehmen. Der Schönheitsfehler an der Geschichte war nur, dass der „Aktionär“, der die Rückzahlung erhielt, ein anderer war, als der, der die Aktien gezeichnet hatte, dass die alten PhönixVersicherten wieder um ihre Polizzendeckungen gebracht wurden und die durch die Phönix-Umlage besteuerten Versicherungsnehmer auch nichts zurück erhielten. Ich habe einen derartigen Vorgang niemals mehr, weder vornoch nachher, beobachten können; er war aber unzweifelhaft „legal“. Wenn letztere Geschichte auch die „Städtische“ nicht direkt betroffen hat, sie war sicher ein Beitrag zu dem Vertrauenverfall, den die ganze Versicherungswirtschaft, angefangen von der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, über den PhönixZusammenbruch erlittem hatte und der nach dem Zweiten Weltkrieg noch gesteigert wurde. Nicht nur, dass die Inflation wieder gewütet hatte. Die Zerstörung der Deckungsmittel durch den Krieg hatte eine Kürzung der Auszahlungen in der Lebensversicherung um 60 % notwendig gemacht. Statt aber dem Publikum die Wahrheit zu sagen, dass diese Mittel verloren seien, war die Versicherung verpflichtet so zu tun, als ob diese Mittel nur gesperrt seien. Erst das Rekonstruktionsgesetz 16 von 1955 schuf dann Klarheit. In dieser Zeit hatte die Versicherungswirtschaft, mit Ausnahme der Övag und zu einem kleinen Teil die Volksfürsorge, ihre Vermögen aus der Sachversicherung wieder aufgebaut. Der 1955 fertiggestellte Ringturm war das weithin sichtbare Zeichen hiefür. Das Publikum konnte diese Dinge nicht verstehen. In Deutschland hatte man viel früher tabula rasa gemacht; solange die Ruinen der Häuser auf den Straßen lagen, verstanden die Menschen, dass auch ihre Versicherungen entwertet waren. In Österreich schritt man dabei auch wieder mit halben Mitteln auf halben Wegen voran. Der Lebensversicherung hat es viele Jahre für den Wiederaufbau gekostet. Wien, Dezember 2004 Anmerkungen 1 Die Artikelserie ist mittlerweile in Buchform erschienen: Wolfgang Fritz: Für Kaiser und Republik. Österreichs Finanzminister seit 1848. Wien: Edition Atelier 2004; das Kapitel „Rudolf Neumayer: Herr Karl auf höchster Ebene“, S. 203-207. 2 Josef Sterk, Brief an Otto Binder in Stockholm, Wien, 2. Februar 1947. In: Otto Binder: Wien — retour. Bericht an die Nachkommen. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1997, S. 177-81. 3 Johann Stornigg war ursprünglich Elektriker und gehörte zu der ersten Garnitur derer, die Liebermann zur Neugründung der Anstalt angestellt hatte. Er hatte vorher an den Spartakistenkämpfen in Berlin und, nach den Erzählungen seiner Tochter, in Italien an den Demonstrationen nach der Ermordung Matteottis teilgenommen. Mit dem Wachsen der Anstalt wuchs auch seine Funktion von der des Hauselektrikers zum Chef der “Hilfsabteilungen”. So unterstanden ihm bereits in der Zeit vor dem Februar 1934 sämtliche Hausverwaltungen, der Einkauf, Kaufund Verwaltung des Büromaterials, einschliesslich der Hollerith, des damals modernen Lochkarteisystems, und nicht zuletzt die Reklame und Propaganda. Stornigg besaß großes Kunstinteresse- und -verständnis und wurde dadurch ein wichtiger Förderer der damals jungen Grafikergeneration (Baner, Kosel, Luigi Kasimir). Es wäre den Anstaltleitungen auch während der Jahre 1934 bis 1945 ziemlich schwer gefallen, auf ihn verzichten zu müssen, und ich selbst war sehr betroffen, als er aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in Pension gehen musste. 4 Die Gerichtspersonen, die im Prozessakt angeführt sind, waren mir persönlich nicht bekannt. — Der Schöffenprozess unter dem Vorsitz von Landesgerichtsrat Dr. Berger begann am 28. Jänner 1946; Staatsanwalt war Dr. Helmreich. Als Zeugen traten u.a. auf: Dr. Friedrich Krieger (zweiter Sekretär Neumayers), Dr. Josef Stangelberger (erster Sekretär Neumayers), Dr. Georg Zimmermann (ehemaliger Finanzminister), Dr. Viktor Kienböck (ehemaliger Finanzminister), Ing. Julius Raab (späterer Bundeskanzler), Dr. Hans Pernter (ehemaliger Unterrichtsminister), Wilhelm Miklas (ehemaliger Bundespräsident), Dr. Guido Schmidt (ehemaliger Außenminister, aus der Haft vorgeführt). Am 2. Februar 1946 wurde das Urteil verkündet. 5 Einmal wird im Akt - ohne ausdrückliche Nennung als Zeuge — auch Norbert Seidmann (allerdings mit falschem Vornamen) erwähnt, dessen Aussage eigentlich nicht uninteressant gewesen wäre. Seidmann war politisch Verfolgter und im Untergrund gewesen, galt lange Zeit als Kommunist und spielte sich nach 1945 als eine Art “Politruk” auf, eine Rolle, die mit dem abflauenden Einfluss der Kommunisten bald an Glaubwürdigkeit verlor, aber noch lange nach meinem Wiedereintritt in die “Städtische” bei furchtsameren Seelen Wirkung zeitigte. 6 Die Ablehnung der NSDAP-Mitgliedschaft von Rudolf Neumayer dürfte auf die bestehenden Restriktionen der Partei gegenüber bestimmten Personenkreisen zurückzuführen sein. 7 Gerald D. Feldman: Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft. Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Miinchen: Beck 2001. 731 S.