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Zurückkehren ist kein Wiederkommen, wenn auch die früheren Straßen und Plätze, die Ecken und Treffpunkte aufgesucht, abgeschritten werden: Das Wohnhaus im 9. Bezirk, in der Alser Straße 28, 2. Stiege, Tür 24, wo die Kindheit erst wirklich begann. Dort lebt die Erinnerung auf einer Spur von „es war so...“ und dem beginnenden Gewahrwerden seiner selbst. Otto Binder, am 2. Jänner 1910 in Wien geboren, entstammt einer jüdischen Familie. Sowohl die Vorfahren mütterlicherseits als auch väterlicherseits waren als Deutschsprachige aus Böhmen und Mähren zugewandert und hatten es zu kleinem Wohlstand gebracht. Von Geborgenheit durchströmt sind die frühen Erinnerungen an die Besuche am heutigen Mexikoplatz (damals Erzherzog Karl-Platz), wo der Großvater Weissenstein ein Cafe und eine Greißlerei betrieb. Die Familie gehörte zu jenem Teil des Wiener Judentums, der sich „bewußt“ assimilierte. Der Platz der Religion wurde zunehmend von der eher freidenkerisch orientierten Sozialdemokratie eingenommen: Das Verhältnis zur Religion reichte von einer gewissen sentimentalen Anhänglichkeit über Distanziertheit bis zur radikalen Ablehnung. Äußere Frömmigkeit empfand man als fremd, die Orthodoxie östlicher Art verachtete man. [...] das Bewußtsein, Jude zu sein, gab es, weil es einerseits Antisemitismus gab und weil andererseits in dieser Menschengruppe starke Traditionen vorhanden waren, die man schätzte und pflegte. „... Gewissenlosigkeit, mit der man damals Menschenleben vergeudete.“ Was die Mutter, Hermine Binder, geb. Weissenstein, 1916 bewogen hatte, von dem äußeren Bezirk Penzing in das Ärzteviertel am Alsergrund zu übersiedeln, war sicher nicht der materielle Aufstieg, eine für die Zukunft zu erwartende Wohlhabenheit. Es war im dritten Jahr des I. Weltkrieges, dem Jahr, in dem der alte Kaiser starb — vielleicht beruhte ihr Entschluß auf einer Mischung von Lebensklugheit und Verzweiflung. Kriegswitwe, mit zwei kleinen Kindern, Heddy, geboren 1908, und dem um zwei Jahre jüngeren Otto. Ein Jahr zuvor, im heißen August 1915, war ihr Mann, Julius Binder, im 42. Lebensjahr an die russische Front gejagt worden und nach einem 17stündigen Eilmarsch, bepackt mit dem vorgeschriebenen 40-Kilo-Tornister, an einem Herzversagen gestorben. Der Betrieb im 14. Bezirk, „Binder & Matouschek“, eine kleine Spiegelbelegerei und Glasschleiferei, die für die Möbelerzeugung produzierte, war mangels Nachfrage und Rohstoffe, aber vor allem durch die militärische Aushebung der Fachkräfte in Konkurs gegangen. Mit den 10.000 Kronen aus der Lebensversicherung des Vaters bei der „Phönix“ wurde die große Wohnung in der Alserstraße gemietet, möbliert und bis aufein Kabinett für den Eigengebrauch an Flüchtlinge aus Ostgalizien untervermietet. Die Volksschule lag im 17. Bezirk, in der Geblergasse, weil in der zuständigen Volksschule im 9. Bezirk ein Kriegsspital eingerichtet war. Meine Lehrerin dort war eine attraktive junge Dame namens Isabella Gerasch. Als man zu Hause merkte, daß sie mir gut gefiel, hatte ich unter dem sehr weiblichen Spott meiner Familie zu leiden. Wenig zum Spotten gab es in den Hungerjahren nach dem Krieg, ein sonderbarer Wetteifer erfaßte die Buben, wer aller welche Zeichen der Unterernährung vorweisen konnte. „Bis dahin hatte kein Bub einen Vater gehabt.“ Dann kam einer nach dem anderen zurück. Die Mutter und ihre jüngste, unverheiratete Schwester Frieda sicherten den Lebensunterhalt durch Heimarbeit (Strickwarenerzeugung) für die Firma Langbein & Co. Eine der größten Wohltaten in diesem Grau und in dieser Not war die Erfindung des Radios, für das angespart wurde und das während des langen Arbeitstages Abwechslung bot. „Und wenn meine Mutter uns am Sonntag vormittag aus dem Haus haben wollte, schickte sie uns ins Museum.“ „Brechung des Bildungsmonopols der Besitzenden“ Diese Losung der Arbeiterbewegung, zugleich eine der Ziele der Glöckelschen Schulreformen in Wien, hat den Schüler Otto Binder begeistert. 1920 trat er in das Realgymnasium Albertgasse ein als einziger seiner Volksschulklasse und als einziger ohne Vater. Mit einem „Armenzeugnis“ erhält er Unterstützung durch die Fürsorge. Die erste Zeit durften nur Buben diese Schule besuchen, mit der Zeit wurde man aber auch beim Bund moderner. In den Oberstufen wurden fünf oder sechs Mädchen zugelassen. Allerdings durften sie sich in den Pausen nicht mit uns unterhalten, sondern mußten ihre Pausenpromenade vor dem Lehrerzimmer absolvieren. Die Professoren, ausschließlich Männer, waren politisch entweder christlich-sozial oder deutschnational. Mit zwölf Jahren kam Otto zu den Pfadfindern, dort begann die Freundschaft mit Kurt Weiss und Luis Spengler, die ein Leben lang hielt. Weiss konnte 1938 nach Kolumbien emigrieren, Spengler nach Argentinien; beide sind in ihren Exilländern geblieben. Von der starken politischen Polarisierung wurde auch die Jugendbewegung erfaßt, ein Teil begann gegen das christliche und „nationale“ Hegemoniestreben, aber auch gegen die sog. „Jugendpflege“ zu opponieren. 1926 Übertritt der gesamten Pfadfindergruppe in das sozialdemokratische Lager: Rote Falken, Republikanischer Schutzbund, Sozialistische Arbeiter-Jugend (SAJ). Für die Jugend symbolisierte das „Rote Wien“ die Hoffnung auf eine moderne, demokratisierte Gesellschaft — „von einer tiefen Bewußtseinsänderung“, spricht Otto Binder, gegenüber der Depressivität, Dünkelhaftigkeit und Verarmung, die die ehemaligen Weltstadt zu zerfressen drohten. Heddy, die begabte und wissbegierige Schwester, erlernte nach der Hauptschule die Schneiderei, versuchte dazuzuverdienen, aber es reichte nicht. Nach vier Jahren war für Otto Binder die Mittelschulzeit zu Ende; er machte eine kaufmännische Lehre und fand danach eine „Lebensstellung“ bei der angesehenen Textilfirma „Lederer & Wolf“, welche er allerdings 1928 aufgab; Mitglied der sozialdemokratischen Partei, doch arbeitslos. 1931 vermittelte ihm Josef Pleyl bei der „Gemeinde Wien — 17