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Städtische Versicherungsanstalt“, die Personal für ihre Vertretungen in den Bundesländern suchte, eine Anstellung in Salzburg. Er fungierte als Anlaufperson für eine Art Sozialversicherung für Frauen, deren Exponentin die Abgeordnete Ferdinanda Flossmann war. Nach kurzer Zeit wurde er auch Obmann der Salzburger SAJ-Gruppe. In diesem Umkreis lernte er die Saalfelderin Anni Pusterer kennen und lieben. „... wieder arbeitslos, was eine viel ärgere Strafe als die Haft war.“ Im April 1934 wurden Otto Binder und Anni Pusterer wegen Betätigung für eine verbotene Partei verhaftet und verurteilt. Darauf folgte die „fristlose Entlassung“ nach $ 27 des Angestelltengesetzes wegen Abwesenheit durch Haft. Meine Nazi-Mithäftlinge dispensierten mich vom obligaten Aufwaschen des Fußbodens in der Zelle und im Korridor, damit ich mich, Roter und Jude, der ich war, mit meiner ‚arischen’ Freundin treffen und von ihr Essen erhalten konnte - unter Aufsicht des diensthabenden Polizisten. Die Kameraderie der politisch Verfolgten war diesen kleinen Nazis näher als die ganzen Theorien und Parolen, von denen sie im Grunde ohnehin nicht viel hielten. Die zielbewußte Barbarisierung der österreichischen Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt auch nicht so weit gediehen wie vier Jahre später. Im Herbst 1934 kehrte er nach Wien zurück und beteiligte sich am Aufbau der illegalen RSJ (Revolutionäre Sozialistische Jugend): /.../ wir wollten den Widerstandswillen gegen den Faschismus aufrechterhalten, dem Abgleiten der Menschen zu den Nazis oder den Kommunisten entgegenwirken, das Informationsmonopol des Regimes unterlaufen, Zellenorganisationen aufbauen [...] 1936 als „Kontaktmann“ wieder festgenommen, saß er als Häftling im Polizeigefangenenhaus Roßauerlände, zu dritt in einer Einzellzelle. 12. März 1938: „Es herrschte eine Stimmung des Aufbruchs.“ Beim Treffpunkt waren nicht vier, sondern mindestens 50 Genossen, die meisten seit kurzem aus dem Anhaltelager Wöllersdorf entlassen. Aus diesen „persönlichen Gründen“ sahen sich viele außerstande, bei der von Schuschnigg beabsichtigten Volksabstimmung mit „Ja“ zu stimmen. „,.. und ich wußte, in der Polizeidirektion am Schottenring saß bereits die Gestapo.“ Nach dem 10. April 1938, der Hitler-Volksabstimmung, lebte er versteckt abwechselnd bei Franz und Elfi Lichtenberg, Thea und Kurt Weiss, aber auch sie waren gefährdet. Am 24. April 1938 wurde er aus seiner Wohnung abgeholt. Nach drei Tagen im improvisierten Gesptapogefängnis Karajangasse — bis das geforderte Kontingent von 5.000 Juden erreicht war — und methodischer sadistischer Einschüchterung durch die SS Transport in das KZ Dachau. Dort fand er Arbeit im Kommando „Plantage“, das riesige Felder mit Basilikum zu bepflanzen hatte, um die Einfuhr ausländischer Gewürze zu verringern. Nach dem Abtransport der jüdischen Häftlinge nach Buchenwald im September 1938 mußten burgenländische Zigeuner die Arbeit übernehmen; der Frost zerstörte die Pflanzungen, die Zigeuner wurden dafür aufs schlimmste bestraft. [...] wir wußten jeden Tag, wie viele Tote es unter uns gab, und ich, Versicherungsmensch, der ich schon damals war, konnte mir ausrechnen, daß die Sterberate im Lager gegen Ende des Jahres bei über 50 Prozent liegen würde. Über das „Matteotti-Komitee“ der Sozialistischen Internationale erhielt Otto Binder ein Visum für Schweden, und seine Mut18 ter konnte im Mai 1939 seine Entlassung aus dem KZ Buchenwald erwirken. In Wien war dann die Frage nach dem Vorhandensein der Zähne obligat, denn man wußte von den gezielten Schlägen und Folterungen. „Ein Paradies voll Sorgen.“ Am 1. Juni 1939 erreichte Otto Binder Schweden. Ein provisorisches Quartier war von Bruno Kreisky bei der Familie Popelka (auch er ein ehemaliger Angestellter der „Wiener Städtischen“) besorgt worden. „Was ich in Dachau und Buchenwald erlebt hatte, gab mir allen Grund zur Angst um meine Familie.“ Die Situation war prekär, denn als Unterstützungsempfänger (Geldzuwendungen vom Flüchtlinskomitee der Gewerkschaften) war es ihm unmöglich, Verwandte nachzuholen. In letzter Minute konnte er sich in einen von der schwedischen Regierung für Emigranten eingerichteten einjährigen Ausbildungskurs zum Metallarbeiter hineindrängen, auch Paul Neurath war dort zur Umschulung. Schweden mußte nach der Okkupation von Dänemark und angesichts der politischen Situation in Norwegen befürchten, von Hitlers Armee angegriffen zu werden — mobilisierte und kurbelte die Kriegsproduktion an. Otto Binder erhielt eine Arbeitsgenehmigung und übte den Beruf des Eisen- und Metalldrehers bis 1945 aus. Anna Pusterer, in Salzburg polizeibekannt, gelang es, sich im benachbarten Bayern einen fünf Jahre gültigen Paß zu verschaffen. Sie erreichte mit einem Touristenvisum wenige Wochen vor Kriegsausbruch Stockholm. Axel Granath, Leiter des Flüchtlingskomitees, vermittelte ihr eine Stelle als Kindermädchen bei der Diplomatenfamilie Nylander. Es war eine nicht sehr große sozialdemokratische Emigrantengruppe, die doch zueinander fand, sich gegenseitig unterstützte und Verbindungen zur schwedischen Arbeiterbewegung knüpfte. Otto Binder begann 1940 unter sehr elenden Bedingungen in der abgeschiedenen Gegend des mittelschwedischen Grubengebietes Högforsbruk zu arbeiten. Ein gemeinsames Leben mit Anna war bis 1942 nicht möglich. „Emigranten können auf mancherlei Art allein sein.“ Als die Schlagzeilen des „Dagens Nyheter“ den Fall von Paris (14.6. 1940) verkündeten, „war eine Welt untergegangen, aber unsere schwedischen Arbeitskollegen öffneten die Zeitung wie gewöhnlich auf der letzten, auf der Sportseite.“ Eine latente Gefährdung verwandelte sich in eine akute Lebensbedrohung — auch Schweden könnte vom Dritten Reich überrollt werden. Aus den USA schickten Muriel und Josef Buttinger Affidavits. Otto Binder wie auch Bruno Kreisky verzichteten aus ähnlichen Gründen: Die Chance, Verwandte doch noch aus Hitlers Reich retten zu können, schien von Schweden aus größer, und man hätte vorerst auch die Lebensgefährtinnen zurücklassen müssen, die ja nicht als Flüchtlinge registriert waren. Wichtig war für Otto Binder, eine Stellung in der Nähe von Stockholm zu bekommen. Ein Wiener Freund, Hans Marosi, war behilflich und brachte ihn als Metalldreher bei der Firma „Finquists“ unter. Im Akkord wurden dort verteidigungswichtige Kupplungsteile hergestellt. [...] über Portugal konnten wir Eßpakete nach Wien schicken. Sie enthielten unter anderem Sardinen und Kaffee. Mit dem Sardinenöl konnten sie kochen, und Kaffee war im Dritten Reich bereits ein wertvolles Tauschobjekt.