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Die Wohnung in der Alserstraße war in der Zwischenzeit konfisziert worden, Hermine Binder und ihre Schwester Frieda lebten mit anderen ihres Obdachls beraubten Juden in einem verlassenen Trödlerlokal auf der Fischerstiege. Die Schwester Heddy war zum Arbeitseinsatz ins „Altreich“ verpflichtet worden. „Über Freunde und Bekannte haben wir nichts zu berichten, weil keine mehr hier sind“, schrieb Hermine Binder am 17. März 1942, in einem ihrer letzten Briefe aus Wien, vor der Deportation, an ihren Sohn Otto. Ihr schwedisches Visum lag seit Jänner am Konsulat, doch die Nazi-Behörden stellten keine JPässe mehr aus. Dieses Bild, wie diese drei Frauen des letzten, was sie noch hatten, der Gemeinschaft mit Mutter, Tochter, Schwester, beraubt und allein in der Menschenmenge, auf dem Gelände des Aspangbahnhofes in Viehwaggons gepfercht und in den Tod geschickt werden, in der Menschenmenge und doch allein — dieses Bild hat mich nie mehr losgelassen [...]. „Die Jahre der Emigration ... Jahre des Briefeschreibens.“ Schweden, Mitglied der Haager Konvention, anerkannte die Ehehindernisse des Heimatlandes - so reichten die Nürnberger Gesetze bis Stockholm, und eine Eheschließung wurde erst durch Staatenlosigkeit möglich. 1943 Geburt der Tochter Margit. „Wir lebten nun in einem dichten Netz von Beziehungen, wie man es sonst fast nur in der Stadt hat, in der man aufgewachsen ist.“ (S. 97) Viele Emigrantenpaare bekamen Nachwuchs, und es ergab sich ein Kreis von jungen Frauen, die sich nahestanden und sich gegenseitig halfen, auch um Beruf und Kinder zu vereinbaren. Im Juni 1945 trat Otto Binder in die Versicherungsanstalt der schwedischen Konsumgesellschaften „Folksam“ ein. Stockholm 1946, v.l. Otto und Anna Binder mit Freunden. Im neutralen Schweden „war es vielen von uns möglich, den über die ganze Erde verstreuten Freunden und Genossen Nachrichten über ihre Freunde, Familienmitglieder und die in Österreich Verbliebenen zukommen zu lassen. [...] auch waren wir in der Lage, lange vor den amerikanischen ‚Care’-Paketen, Nahrungsmittel nach Österreich zu schicken.“ Über die „Schwedisch-Österreichische Vereinigung“ (gegründet von dem ehemaligen Gesandten Buchberger und Bruno Kreisky) erfolgten bald Einladungen an Delegationen aus Österreich. Otto Binder empfängt, bewirtet, dolmetscht und lernt die neuen Kräfte der österreichischen Sozialdemokratie kennen. Als Adolf Schärf auf seiner ersten Auslandsreise unsere Parteigruppe in Stockholm besuchte und glaubte, uns sagen zu müssen, wir sollten in Schweden bleiben, weil man uns in Österreich weder Arbeit noch Essen noch Wohnung geben könnte. Er zog sich damit einen riesigen Krach von seiten einiger seiner ältesten Freunde zu. „Geleise auf dem Weg zurück“ Da sind zunächst das grundlegende Netzwerk der Exilanten und Remigranten und die konträren Bilder und persönlichen Eindrücke, die sich aus den Wien-Besuchen ergaben. . Ab 1946 Briefkontakt mit Josef Pleyl, der 1934 nach Brünn, dann vor Hitler nach Malmö und schließlich nach Stockholm geflüchtet war und 1946 mit einem organisierten Transport auf der „Kastelholm‘ nach Wien zurückgekehrt war; dann mit dem 1934 zwangspensionierten Direktor der Städtischen Versicherung Norbert Liebermann in Philadelphia und mit dem bereits bei der Städtischen Versicherung als Prokurist und Betriebsratsobmann arbeitenden Josef Sterk, der in Frankreich im Untergrund überlebt hatte. Der Weg zurück führte zunächst zur Schreibmaschine. Otto Binder verfaßte Artikel über die Lehrlingsausbildung, über die Neugestaltung des Sozialstaates und über die Planung von Wirtschaftspolitik, stellte Bücher der letzten 10 Jahre vor, die an dem geistig abgeschotteten Österreich vorbeigegangen waren. Im März 1947 wurde die erste Reise nach Wien möglich. Die „Folksam“ unterstützte Otto Binder finanziell. Zur Reisevorbereitung wurden Lebensmittelpakete vorausgeschickt, um die Wiener Gastgeber nicht zu belasten. Durch den Besuch gelang eine Anbahnung geschäftliche Verbindungen zwischen der „Folksam“ und der „Städtischen“, die später zu internationalen Kooperation (Rückversicherungsabkommen usf.) führten. [...] ich war wirklich erschüttert über den Verlust an Niveau und Persönlichkeit, der durch Isolierung, Zerstörung des geistigen Umfeldes und nicht zuletzt durch jahrelange Not und Hunger hervorgerufen worden war. Hier fehlte es an Kräften, hier war etwas zu tun, hier konnte man wirksam werden. 19