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Der zweiten Wien-Besuch ergab sich im Oktober 1947, Anlaß war der „Rote Jugendtag‘“ (Versuch der Neugründung der Sozialistischen Jugendinternationale). Otto Binder begleitete als Dolmetscher und Kontaktperson die schwedischen Delegation. yee eine Chance zu haben, selbst zu gestalten.“ Der fortschreitende Kalte Krieg mit allen seinen Konsequenzen in Österreich ließ zunächst Rückkehrpläne obsolet scheinen. 1948 Geburt des Sohns Lennart, 1949 wurden die Binders schwedische Staatsbürger. Während des Sommeraufenthaltes in Wien folgte das definitive Angebot von Norbert Liebermann, als „Nachwuchs in die Leitung‘ der „Städtischen Versicherung“ einzusteigen, und Otto nahm das Angebot an. Im Dezember folgte die Familie nach. Das war die große Chance meines Lebens. [...] Ich hatte praktisch keine Schulausbildung und spürte, trotz aller Toleranz der Schweden, das Handikap des Ausländers. |...] Es bedeutet mir sehr viel, dabeizusein, mitwirken zu können und das durchzusetzen, was für uns sozial, progressiv und human war. Ich wollte bei der Zurückdrängung konservativer und faschistischer Tendenzen mithelfen. Von den Mitgliedern der Familie hatten nur Heinz Binder und Tante Fanny in England, Karl und seine Tochter Regina überlebt. Als wir uns wieder trafen — Freunde, Genossen, Bekannte, in Stockholm, in Salzburg, in Wien, die, die aus der Emigration kamen, aus dem Soldatendasein, aus den Zuchthäusern und KZ's -, warum redeten wir so wenig...? Warum hat auch in der Emigration kaum einer dem anderen erzählt, was mit seinen Angehörigen geschehen ist? In der betriebliche Situation der „Wiener Städtischen‘ war Otto Binder zunächst ein Außenseiter, für die meisten Mitarbeiter hatte er einen völlig anderen Hintergrund. Die NS-Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen, sichtbar im Mangel an geschulten Mitarbeitern und in einer widerständigen Einstellung gegen Modernisierungen, „das können wir uns nicht leisten“. Otto Binder wollte seine Kenntnisse des schwedischen Versicherungssystems nutzen und bekam von Direktor Norbert Liebermann freie Hand, sich sein „Ressort aufzubauen“: Einführung einer systematischen Konkurrenzbeobachtung, Research Abteilung, kombinierte Versicherungsangebote, Probleme um das „Deutschen Eigentum“, moderne Versichertenverwaltung, direkte Verantwortlichkeit des Bearbeiters im Schadensfall usf. Nach zehn Jahren als „Trouble shooter“ wurde Otto Binder im Jänner 1959 Generaldirektor — eine rare Karriere eines Verfolgten und Exilierten, dessen Intellektualität auf Mitteilung und Verständigung zielte und nach dem vertrauten Kern von Gemeinsamkeit. Alle Zitate stammen entweder aus Otto Binders Buch „Wien — retour. Bericht an die Nachkommen“ (Wien 1997) oder aus dem Interview der Verfasserin mit ihm am 19. Jänner 2005. Otto Binder ist am 15. Februar 2005 im 96. Lebensjahr verstorben. Mit tiefer Betroffenheit haben wir diese traurige Nachricht erhalten. Otto Binder war ein mutiger und außergewöhnlicher Mann, der mit unermüdlichem Engagement und starkem Willen zum Wohle der Wiener Städtischen und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingetreten ist. Für die Wiener Städtische war Otto Binder seit 1931 tätig — unterbrochen nur durch die Jahre des Ständestaates und des Nationalsozialismus, die er nach schwerster politischer Verfolgung und Internierung in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald in der Emigration in Schweden verbrachte. Im Jahr 1949 kehrte er in die Wiener Städtische zurück und übernahm 1952 die Funktion des Generalsekretärs und wirkte beim Bau des Ringturms — der heuer sein 50-jähriges Jubiläum feiert - maßgeblich mit. Seine Berufung in den Vorstand erfolgte 1959 und im gleichen Jahr folgte er Norbert Liebermann als Generaldirektor nach. Als Generaldirektor führte Otto Binder 22 Jahre lang bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1981 die Wiener Städtische. Unter seiner Leitung wurde die Wiener Städtische zu einer der führenden Versicherungen Österreichs. Durch den Erwerb der Aktienmehrheit an der Donau Versicherung wurde der Konzern Wiener Städtische durch Otto Binder begründet. Otto Binders Engagement ging weit über das Unternehmen hinaus. Sein Name steht für soziale Gerechtigkeit und praktizierten Humanismus. Seine Arbeit war niemals Selbstzweck. Er sah in seiner Position als Generaldirektor auch stets die ge20 sellschaftspolitischen Herausforderungen und Verantwortung. Im Mittelpunkt seines Handelns und Wirkens stand für Otto Binder immer der Mensch. Wer die Erfahrungen der Zusammenarbeit mit Otto Binder machen durfte, der konnte immer wieder bewundern, wie sich Ehrlichkeit, Geradlinigkeit, Fairness mit tiefer Menschlichkeit verbanden. Auf Grund dieser großen Menschlichkeit und Güte wurde für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur einer „Vaterfigur“. Und für ihn machten sie die Stärke der Wiener Städtischen aus. Er hat sich immer wieder persönlich mit großem Einfühlungsvermögen und Feinfühligkeit für sie eingesetzt. Er war aufmerksamer Zuhörer bei Problemen, offen und herzlich. Seine Jahre in der Wiener Städtischen — insbesondere seit 1959 — bezeichnete er stets als sehr schöne und glückliche Jahre. Otto Binder hat die österreichische Wirtschaft und Politik viele Jahrzehnte mitgestaltet. Auch nach seiner Pensionierung nahm er weiterhin rege am wirtschaftlichen und politischen Leben unseres Landes Anteil. Er verfasste ein autobiographisches Buch unter dem Titel „Wien — retour“, das viel Aufmerksamkeit fand. Sein Lebensweg war nicht immer freiwillig gewählt und er musste die dunkelsten Seiten des Lebens kennen lernen. Trotzdem, oder gerade deswegen blieb er Optimist und sah im Menschen immer das Gute. Mit seinem Tod haben die Wiener Städtische und Österreich einen außergewöhnlichen Menschen und eine große Persönlichkeit verloren. Dr. Günter Geyer Generaldirektor Wiener Städtische Versicherung