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Anfang Juni 1933 stand Liechtenstein, das damals noch weit weniger Briefkästen als Einwohner aufwies, für einige Stunden im Mittelpunkt des Interesses der internationalen Presse. Ursache dafür war ein Prozeß, in dem nicht die Aktiv- und Passivbeteiligten der strafbaren Handlung die große Anteilnahme hervorriefen, sondern der Sachverhalt selbst. Spiegelten sich doch in ihm die Probleme und Kämpfe dieser Zeit und nahezu aller Kulturstaaten — alte und neue Staatsgrundsätze, Wirtschafts-, Rasse- und Glaubensfragen, Gesichtspunkte von Vorurteilen und Macht, Ethik und Wahrheit — wie in einem Brennglas. Die Anklage lautete: versuchter Menschenraub. Begangen an Alfred Rotter und seiner Frau Gertrud, seinem Bruder Fritz Rotter und einer Bekannten der Familie, Frau Julie Wolf. Das Motiv — gleichzeitig Milderungsgrund in der Strafbemessung — hieß: Vaterlandsliebe. Was war passiert? Am 5. April desselben Jahres hatten vier Liechtensteiner aus alt eingesessenen Familien und stramm nationalsozialistischer Gesinnung die Rotters und ihre Freundin in einen idyllischen Hinterhalt gelockt und dort mit zwei Helfern aus Konstanz versucht, sie zu überwältigen und sie, so der Plan, über österreichisches Gebiet an die deutsche Grenze, nach Lindau „rückzuführen“. Alfred und Getrud Rotter, sowie Frau Wolf gelang die Flucht in den Wald, Fritz Rotter konnte sich später durch den Sprung aus dem Auto eines angeblichen Helfers retten. Schwer verletzt wurde er ins Spital in Vaduz gebracht, wo die Schwestern einen Wachdienst organisierten, aus Angst, der liechtensteinische Mob könnte im Krankenhaus auftauchen und die Tat vollenden. Auch Frau Wolf wurde, mit einer Wunde am Auge, geborgen. Alfred und Gertrud Rotter blieben verschwunden. Ein Suchtrupp, für dessen Verköstigung die Luftkuranstalt „Samina“ Fritz Rotter später 43 Franken 95 in Rechnung stellte, brach seine Arbeit bald „wegen einbrechender Dunkelheit‘ ab, der Hund des Triesenberger Jägers fand die beiden schließlich kurz nach acht Uhr abends. Sie waren über einen Felsvorsprung zwanzig Meter in die Tiefe gestürzt und so zu Tode gekommen. Daß für ihren Absturz und somit auch für ihren Tod Verfolgung ursächlich gewesen sein könnte, wurde vom Gericht nicht in Betracht gezogen. Daß über den Hang oberhalb des „Unfallorts“ Geld, Handtasche, Notizbuch, Schuhe verstreut lagen, ja selbst die Tatsache, daß Alfred Rotter auf der Flucht die Hose verloren hatte, war den Behörden keine weitere Untersuchung wert, sie beschränkten ihre Ermittlungen auf den Tatbestand des versuchten Menschenraubs und zeigten sich auch den deutschen Kollegen gegenüber großzügig, denn als diese mitteilten, die Strafverfolgung der nach ihrer Flucht über die österreichische Grenze in Feldkirch inhaftierten deutschen Mittäter selbst durchführen zu wollen, zog man den eigenen Auslieferungsantrag an Österreich schleunigst zurück. Die vier Liechtensteiner waren gegenüber der Anklage des versuchten Menschenraubs übereinstimmend geständig, schuldig jedoch, schuldig seien sie nicht, und zwar aus folgendem Grund: die Brüder Rotter seien in Deutschland als „Volksverbrecher“ erkannt und hätten somit Schande über Liechtenstein gebracht. Mit ihrer Entführung wäre die Ehre des Vaterlandes wieder hergestellt und zusätzlich dem nationalsozialistischen Nachbarn ein Dienst erwiesen worden. 22 Da diese Argumentation als Milderungsgrund anerkannt wurde, obwohl das Gericht ausdrücklich einen „bedingten Strafvollzug“ ausschloß und dies, man vernimmt es erstaunt, auf Grund der Schwere der Tat, da überdies die Rotters, deren „Überstellung‘ nach Deutschland vaterländischen Idealen dienen sollte, seit 1931 liechtensteinische Staatsbürger waren, vermutet man einen Wurm in der Geschichte, und man vermutet richtig. Die Rotters hießen eigentlich Schaie und waren, 1886 bzw. 1888 in Dresden geboren, jüdischer Abstammung. Noch während des Jura-Studiums in Berlin erwarben sie um 1916/17 das Trianon-Theater, legten sich einen Künstlernamen zu und errichteten im Lauf der Jahre das berühmte Rotter-Imperium, bestehend aus neun Theatern. Ein nach und nach ziemlich unübersichtliches Gebilde, das auch immer wieder einmal nur mittels eher undurchsichtiger Transaktionen gerettet werden konnte, aber in Zeiten der Krise, in denen viele andere Theater Bankrott gingen, eben gerettet wurde. Theaterkritiker wie Siegfried Jacobson, Herbert Ihering oder auch Kurt Tucholsky warfen den Rotters ihr zum Teil recht mäßiges, dem Durchschnittsgeschmack verpflichtetes Programm vor, andererseits finanzierten die Rotters mit ihren Operetten-Revuen Inszenierungen von Stücken, die zu ihrer Zeit ein Wagnis bedeuteten, taten sich zum Beispiel als Vorkämpfer für Strindberg und Schnitzler hervor, und beschäftigten Größen wie Richard Tauber, Fritzi Massary, Käthe Dorsch oder Curt Bois. 1931, zu einer Zeit, als sie auf der Höhe ihres Ruhms und ihrer Prosperität standen, als allerdings der Aufstieg der NSDAP absehbar war und sich antisemitische Ausschreitungen häuften, erwarben die Schaie-Rotters das liechtensteinische Staatsbürgerrecht, gestützt auf Führungszeugnisse des Berliner Polizeipräsidenten. Sie waren nicht die einzigen, und das Geschäft mit den Einbürgerungen brachte Liechtensein nicht wenig Geld ein. Genau dies war vielen Liechtensteinern ein Dorn im Auge, befürchteten sie doch von Anfang an, der wachsende (!) Zuzug von Juden beeinträchtige den Fremdenverkehr, ihre eigene Einnahmequelle also. Die Rotters jedoch, deren Grundstücke mitsamt den Gebäuden allein einen Wert von knapp acht Millionen Mark darstellten, lebten vorerst gar nicht in Mauren, wo sie das Bürgerrecht besaßen, sondern betrieben weiter ihre Theater in Berlin, gerieten aber gegen Ende 1932 erneut in finanzielle Bedrängnis. Sie hätten sie, so darf man annehmen, ein weiteres Mal gemeistert, mag sein durch riskante Manöver, aber diesmal hatten sie nicht nur mit monetären Schwierigkeiten zu kämpfen, sondern mit einer maßlosen Hetze und etlichen Intrigen, gegen die sie machtlos waren. Ob sich die Brüder dem am 22. Januar ergangenen Haftbefehl wegen Konkursvergehens tatsächlich durch Flucht entziehen wollten oder ob ihre Reise in die Schweiz der Suche nach Kredit diente, ist ungeklärt, Faktum ist, daß der Berliner Börsen-Courier am 27. Januar meldete: „Die Rotters wollen kommen“. Drei Tage später kam Adolf Hitler an die Macht. Jetzt waren die Rotters bis zum Beweis des Gegenteils nicht mehr unschuldig, jetzt waren sie „Schädlinge am deutschen Volkskörper“. Und Schädlinge am gewinnbringenden Liechtensteiner Saisonbetrieb. Einer der Täter räumte denn auch ganz freimütig ein: „Ich hatte ursprünglich den Plan, eine Zusam