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Aus dem Französischen übersetzt von Kerstin Gehring. — Titel der Originalausgabe 1994: A Frieda témoignage Es war der 4. September 1942. Ich war sechzehn Jahre alt und langweilte mich. Die Deutschen hatten jüdischen Kindern den Schulbesuch verboten. Ich beschloß, einen gleichaltrigen Freund zu besuchen, der nicht weit von mir wohnte. Wenn ich mich recht erinnere, hieß er David Glowiczower, und seine Eltern waren in unserem Viertel als gute jüdische Bäcker bekannt. Sie wohnten in der rue du Vautour in Brüssel. Ich war also an diesem milden Spätsommernachmittag bei strahlendem Sonnenschein, der wieder ein wenig Hoffnung verlieh, bis zu ihrem Haus spaziert und machte mich gerade daran, an ihrer Tür zu läuten, als ich in der Gegenrichtung ein langsam näherkommendes, offenes deutsches Auto mit vier uniformierten Insassen sah, die ganz offensichtlich eine bestimmte Hausnummer suchten. Da ich den Davidstern trug, schien es mir ratsam, so zu tun, als ob nichts sei, und kehrtzumachen, bevor sie auf meiner Höhe waren. Doch da hörte ich sie schon schreien: „Halt, stehenbleiben!“ Ich drehte mich um und sah, daß das Auto vor dem Haus der Glowiczower stehengeblieben war und einer der Schergen sich hinstellte und mich heranwinkte. Ich zögerte keine Sekunde, nahm die Beine unter die Arme und rannte. Ich hörte deutlich den Lärm von Stiefeln hinter mir. Die Angst und meine 16 Jahre verliehen mir Flügel. Als ich an der Ecke der rue du Vautour (vautour, der Geier, was für ein Name!) angekommen war, schaute ich zurück, um zu sehen, wie nah sie schon waren. Ich sah, daß mein Verfolger seine Waffe gezogen hatte und auf mich anlegte... Mir blieb nichts weiter übrig, als die Arme zu heben und mich recht unsanft zum Auto bringen zu lassen, dessen drei andere Insassen ins Haus der Glowiczower eingedrungen waren. Erst da begriff ich, daß sie die Glowiczowers abholen wollten, die wahrscheinlich, wie viele andere Juden, den Befehl erhalten hatten, sich ins Sammellager Mechelen zu begeben, und diesem Befehl nicht nachgekommen waren. Nach dem Krieg sollte ich dann erfahren, daß die Rufe der Nachbarn, die durchs Fenster die Verfolgungsjagd auf mich beobachtet hatten, die Familie gewarnt hatten und sie gerade noch über die Gartenmauer entkommen konnte. Ich erfuhr aber auch, daß sie später in der Deportation umgekommen sind. Es hatte also nichts genützt, daß ich an ihrer Stelle festgenommen worden war. Ich wurde zur Gestapo gebracht und dort regelrecht verhört, und nachdem ich zur Feststellung meiner Herkunft die Hosen herunterlassen mußte, wurde ich zu einer Zelle im Untergeschoß gebracht und brutal ins Halbdunkel gestoßen. Mein Sturz wurde durch die Arme eines jungen Mädchens gemildert, das mit seinen Eltern und anderen Opfern darauf wartete zu erfahren, welches Schicksal uns bestimmt sein würde. Ich erinnere mich, daß von der ersten Berührung an ein Strom von Sympathie zwischen ihr und mir floß. 24 Ich erfuhr von ihr, daß sie 18 Jahre alt war und so wie ich noch zur Schule ging. Ich spürte bei ihr sofort jenes romantische Empfinden, das auch meinem Wesen entsprach. Wie sonst könnte ich erklären, daß ich mich neben ihr sofort ein wenig sicherer fühlte? Und dabei war das, was mir widerfuhr, aufs höchste beunruhigend. Ich war von meiner Familie abgeschnitten, von meinem Zuhause, wo ich aufgewachsen war, wo ich geliebt wurde, wo ich von hunderterlei Plänen träumend unbekümmert gelebt hatte. Ausgenommen allerdings die letzte Zeit, in der das Unheil in mein Bewußtsein einzudrang. In der Auslage einer Buchhandlung, in die ich eifrig ging, hatte ich ein Buch von Adolf Hitler in französischer Übersetzung gesehen; der Titel lautete „Mein Kampf“. Durch das Buch erfuhr ich, was dieser teuflische Mensch im Sinn hatte. Der Inhalt schreckte mich so auf, daß ich eines Tages, als viel Betrieb in der Buchhandlung war, das Buch beim Durchblättern einfach mitgehen ließ. Das Kapitel über die Vernichtung des jüdischen Volkes ließ mir den Atem stocken. Als ich es zu Ende gelesen hatte, wußte ich genug. Der Mann war also wirklich wahnsinnig. Alle die Einschränkungen und Gesetze, die uns Juden betrafen, hatten demnach nur ein Ziel. Die traurige Bestätigung dieser Erkenntnis erfuhr ich gerade am eigenen Leib. Ich war unvorsichtig gewesen. Wir hätten fliehen, uns irgendwo verstecken müssen, um den Klauen dieses unersättlichen Ungeheuers zu entgehen, das sicher nicht zögern würde, sich auch meiner Eltern und meiner beiden Brüder zu bemächtigen. Und ich war daran schuld! Was für ein Fluch! Zu allem Unglück hatte ich in meiner Blauäugigkeit in meinem Zimmer auch noch ausführlich den Kriegsverlauf dokumentiert, um die feindlichen Niederlagen besser genießen zu können. Ich hatte eine große farbige Europakarte erstanden und an der Wand meines Zimmers befestigt. Darauf hatte ich, dank des Geheimsenders, den ich heimlich bei einem Freund hörte, mit Stecknadeln und einem Faden, Stadt für Stadt und Land für Land die Stellung des deutschen Heeres markiert. Seit Juni 1942 hatten die Niederlagen der Deutschen an der russischen Front zu meiner großen Freude dazu geführt, daß sich die Frontlinie auf meiner Karte zur richtigen Seite hin verschob. Ein Sieg der Alliierten schien mir nun nicht mehr unmöglich. Und jetzt diese Verhaftung, was für eine Niederlage! Ein wahres Waterloo! Man hätte meinen können, daß Frieda — so hieß das junge Mädchen, das meinen Sturz gegen die Gestapo-Mauern abgefangen hatte — erriet, was in mir vorging.