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Ihr warmer Blick und ihr Lächeln in dieser Situation trafen mich mitten ins Herz. Sie wußte nichts von mir, und doch verbanden uns bereits Gemeinsamkeiten, die unserem Willen entzogen schienen und mich beinah vergessen ließen, wohin ich geraten war. Noch niemals war ich von irgendjemandem derart angezogen gewesen wie von ihr. Zwar war ich in meinem kurzen Leben erst wenigen jungen Mädchen begegnet. Die drei Jahre humanistischer Ausbildung am königlichen Athenäum in Brüssel waren mir wohl in bester Erinnerung, aber nie hatte es ein Mädchen gewagt, dort einzudringen. Und es gab auch kein Mädchengymnasium in der Nähe, das Begegnungen auf dem Schulweg erlaubt hätte. Das einzige Wesen, das ich regelmäßig zweimal am Tag auf dem Schulweg nackt sah, war das Männeken Piss vor dem Athenäum. Nicht einmal eine Schwester hatte ich, die mich mit dem Geheimnis des anderen Geschlechts hätte vertraut werden lassen können. Natürlich gab es die Schwestern meiner Schulkameraden und die Mädchen aus dem Viertel, in dem ich wohnte. Aber noch nie hatte ich diese Gefühle der Liebe erlebt, die meine Lieblingsautoren beschrieben. Nach einer unbequemen Nacht voller Ungewißheit zwang sich uns die harte Realität brutal und unbarmherzig auf. Am nächsten Morgen hatte unsere kleine Gruppe das ,, Vorrecht“, die Kaserne Dossin in Mechelen kennenzulernen, die zwangsweise zum Sammellager für all diese jüdischen Familien umfunktioniert worden war. Der Laster, der uns abgeholt hatte, fuhr in den Hof der Kaserne. Dort herrschte eine düstere Atmosphäre. SS-Männer empfingen uns und brachten uns in die „Empfangshalle“. Dort wurden unsere Papiere beschlagnahmt und uns alle Gegenstände und Wertsachen weggenommen. Um sicher zu gehen, daß nichts fehlte, wurden wir einer Leibesvisitation unterzogen. Wir fanden uns - ich auf der Seite der Männer, Frieda auf der Seite der Frauen - splitternackt und vornübergebeugt wieder, damit auch die Teile unseres Körpers untersucht werden konnten, die möglicherweise noch Wertgegenstände verbargen. Sie so nackt und erniedrigt zu sehen, machte mich rasend. Ich fühlte mich ohnmächtig gegenüber diesen niederträchtigen Wesen, wie ein gehetztes Wild, das in die Falle gegangen war, aus der ich mich nicht würde befreien können. Ohne Zweifel hatte der „Empfangs“-Mann der SS die Verachtung in meinem Blick gelesen, denn er fuhr mit der Schermaschine durch meine Haare, deren Fülle er wohl für diesen Ort als zu schön empfand, so daß quer über meinen Kopf ein kahler Streifen verlief. Wir wurden aufgelistet und durchnumeriert in einen Raum gebracht, in dem Strohlager und eine Unmenge anderer unglücklicher Opfer unserer harrten. Um 6 Uhr aufstehen. Frühstück um 7 Uhr, die Tagesration von 200 Gramm trockenem Brot wird ausgeteilt. Um 8 Uhr Appell auf dem Hof. Mittags eine Kelle wässrige Suppe, abends einen Kaffeelöffel voll Zucker und Marmelade, dazu eine als Kaffee bezeichnete schwarze Brühe und — als Krönung des ganzen — Erniedrigungen und Schikanen: so sah das Tagesprogramm dieser zerrissenen und in der schändlichsten Enge zusammengepferchten Familien aus. Ganz zu schweigen von dem pestilenzartigen Gestank, der wegen des Mangels an Waschbecken und Toiletten herrschte. Selbst dieses Danteske Szenario vermochte nicht einen Augenblick Frieda zu erschüttern. Immer war sie aufmerksam darum bemüht, ihre Eltern zu unterstützen und mir zur Seite zu stehen. Und ausgerechnet inmitten all diesen Elends, dieser Welt voller Niedertracht, in der rein gar nichts an Liebe denken ließ, entdeckte ich dank Frieda eine Welt, die ich vorher weder gekannt noch erahnt hatte. Sehr rasch wurde ich von Friedas Eltern wie ein Sohn angenommen. Die Erwartung der sich am Horizont abzeichnenden Tragödie schweißte uns zusammen. Meine pessimistische Zukunftsahnung verstärkte sich weiter, als ich eines Tages auf dem Appellhof einen Gefangenen traf, der zwar erst in mittleren Jahre war, aber wie ein altersschwacher Greis wirkte Er berichtete mir, daß er soeben aus dem Lager Breendonck gekommen sei, wo man ihn wochenlang gefoltert habe und er über vierzig Kilo Gewicht verloren habe. Erst dann habe man ihn als Juden zur Fortsetzung seines Leidensweges in das Zwischenlager Mechelen überstellt. Seine Henker meinten, Juden seien unwürdig, ihre Leiden, wie furchtbar diese auch sein mochten, mit Nicht-Juden zu teilen; das ihnen in Breendonck zugedachte Schicksal sei noch zu gut für sie. Seiner Ansicht nach würde das Schlimmste noch kommen. Die Vergangenheit, meine Eltern, meine Brüder, meine Freunde, alles war wie ausgelöscht aus meinem Leben, so als wüßte ich bereits, daß ich sie nie wiedersehen würde. Es war, als ob mein Selbsterhaltungstrieb aus Furcht um mein inneres Gleichgewicht dafür gesorgt hätte, daß ich alles entwertete, was bisher meine Persönlichkeit und Identität ausgemacht hatte. Ich gehörte zu niemandem mehr, besaß nichts mehr. Vielleicht darum war Frieda zu dem einzigen Wesen geworden, das mich noch mit dem Leben verband. Die Gespräche, die wir in den wenigen Atempausen, die uns blieben, führten, waren gekennzeichnet von unserem gemeinsamen Hunger nach Bildung, die uns durch den Ausschluß von der Schule entzogen worden war; beide hatten wir durch intensives Lesen versucht, diesen Verlust wettzumachen. Für Frieda waren die Werke der Klassiker ein Gebiet, das ihrem Sinn für Romantik Stoff gab; dort konnte sie ihren hehren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Was mich betraf, so konzentrierte sich meine Lektüre eher auf Werke, die meinem Bedürfnis entsprachen, das Geheimnis des Daseins und der Welt zu begreifen, auch wenn diese oftmals so feindlich erscheinen mochte. Frieda schien entzückt, mich über Kant, Leibniz und Schopenhauer sprechen zu hören, auch wenn meine Kenntnisse recht oberflächlich waren. Besonders angetan war sie davon, daß ich ein kleines Werk mit dem Titel „Abhandlung über das Leben der Materie“ verfaßt hatte, in dem ich in mehreren Kapiteln den Beweis führte, daß auch die Materie lebe. Diesen Text trug ich übrigens bei meiner Verhaftung bei mir, um ihn meinem Freund Glowiczower zu zeigen, und die Deutschen hatten ihn konfisziert. Frieda sagte zu mir, daß ich diesen Text nur geschrieben hätte, weil ich das Leben liebte, und daß auch ich ein Romantiker sei. Unsere an diesem Ort der Verzweiflung und Unmenschlichkeit plötzlich und keusch erblühte Leidenschaft wurde mit voll25