er Wucht durch ein Ereignis getroffen, das in all dem Unglück
doch ganz und gar unerwartet kam.
Eines Morgens, als alle Gefangenen im Hof der Kaserne zum
Appell angetreten waren, hielt der Lagerkommandant beim
Abschreiten der Reihen plötzlich vor Frieda ein und musterte
sie längere Zeit von oben bis unten, mit einem Lächeln, das in
merkwürdigem Widerspruch zu seinem ansonsten ausgespro¬
chen brutalen Gebaren stand.
Mit einer Peitschenbewegung wies er sie an, aus der Reihe
zu treten und zu warten, bis er seinen Kontrollgang beendet hat¬
te.
Nachdem er uns alle an unsere Elendsstätten zurückgeschickt
hatte, wandte er sich Frieda zu und befahl ihr, ihm zu folgen.
Die Unruhe ihrer Eltern wuchs von Minute zu Minute, und
das Warten auf Neuigkeiten von Frieda schien sich unendlich
hinzuziehen.
Nachdem wir eine Stunde in fieberhafter Angst verbracht hat¬
ten, kam Frieda schließlich zurück.
Der Kommandant hatte ihr einen Handel vorgeschlagen: Sie
sollte seine Geliebte werden und damit ihre Eltern befreien oder
aber... alle drei würden mit dem nächsten Transport deportiert
werden.
Ihre Antwort kam ohne Zögern und schneidend wie der Tod:
Sie würden gemeinsam in die Deportation gehen.
Dieses Erlebnis steigerte die ebenso stille wie heftige Leiden¬
schaft, die Frieda und ich erlebten.
Es war, als ob ein gemeinsames Los uns von nun an noch
enger verband.
An jenem Tag betete ich darum, das Schicksal möge dafür
sorgen, daß ich mit dem gleichen Transport wie Frieda depor¬
tiert würde.
Was mich an ihr beeindruckte, war, wie dieses auffallend
schöne junge Mädchen aus offensichtlich gehobenen Verhältnis¬
sen bei jeglicher Prüfung Mut und Standhaftigkeit bewies. Sie
war es, die in diesen schweren Tagen unermüdlich Balsam auf
die immer tiefer werdenden Wunden ihrer Eltern träufte.
Zwei Tage später, am 11. September 1942 morgens, wurden al¬
le Gefangenen auf dem düsteren Kasernenhof versammelt und
tausend Namen von Kindern, Eltern, Greisen, Kranken und
Behinderten mit dröhnender Stimme für die große Abfahrt des
bevorstehenden neunten Transports aus Mechelen aufgerufen.
Mein Herz schlug zum Zerspringen... Hurra! Ich würde mit
Frieda und mit ihren Eltern fahren!
Wie Vieh wurden wir in Waggons verladen, deren jämmer¬
liche Ausstattung extra für uns Juden gemacht zu sein schien.
Mit unbekanntem Ziel...
Drei Tage und drei Nächte Elend, Ungewißheit, Schreien,
Weinen. All das waren keine guten Vorzeichen für die Zukunft.
Und überall bewaffnete Aufseher, die uns wie wilde Tiere be¬
lauerten.
Frieda und ich hielten uns während des ganzen Transports
umschlungen, um sicherzugehen, daß wir nicht getrennt wür¬
den. Wir brauchten nicht viel zu reden, um uns zu verstehen.
Worte waren überflüssig, lächerlich geworden.
Ich erinnerte mich damals daran, daß ich vor meiner Verhaf¬
tung meine freie Zeit dazu genutzt hatte, mich in philosophi¬
sche Elementarbücher zu vertiefen. Sicher waren es die poli¬
tischen Umstände und die vielen Enttäuschungen, die mich der¬
art dafür begeisterten und mein Interesse besonders auf die stoi¬
sche Lehre lenkten. Ich sagte mir, daß es vielleicht aufgrund ei¬
ner schlimmen Vorahnung geschah.
Jetzt wiederholte ich mir bestimmte Aphorismen von Zenon
und Marc Aurel, die mir besonders gefallen hatten, weil sie dem
Einzelnen erlaubten, sich wie durch einen Zaubertrick des
Geistes für Schmerz unempfindlich zu machen.
Diese Weisheit war mir um so wichtiger, als sie zu den Er¬
ziehungsgrundsätzen paßte, die einer meiner alten Lehrer aus
dem Athenäum mir eingeschärft hatte. Er gründete seinen ganzen
Unterricht auf die Tugend des Willens bei seinen Schülern, und
er wurde nicht müde, sie bei ihnen zu entwickeln.
Jetzt oder nie war vielleicht die Zeit gekommen, diese schö¬
nen Theorien umzusetzen.
Ich sollte jedoch schon bald lernen, daß sich Philosophie nicht
immer bezahlt macht.
Bei Anbruch des vierten Tages, als der Zug hielt, wachten wir
durch Schreie in deutscher Sprache auf: Alle Männer zwischen
16 und 40 sollten aussteigen. Aus Furcht vor dem, was pas¬
sieren würde, rührte sich niemand im Waggon. Die gutturalen
Schreie wurden lauter, dann wurde plötzlich die Schiebetür
geöffnet.
Ein Mann in deutscher Uniform stieg in den Zug, und be¬
vor ich noch begreifen konnte, was vor sich ging, wurde ich,
trotz der Umklammerung durch Frieda, schon nach draußen
gestoßen und fand mich auf dem Boden wieder.
Wir waren etwa hundert Männer. Sofort schlossen sich die
Türen wieder, der Zug fuhr an und ließ uns, getrennt von den¬
jenigen, die uns lieb waren und die uns gewärmt hatten, den
schlimmsten Befürchtungen und dem schwärzesten Kummer
ausgesetzt, benommen auf dem Bahnsteig zurück.
Wir waren am Ende unserer Reise — und am Anfang des¬
sen, was die schändlichste Vernichtung in der Menschheits¬
geschichte sein sollte.
Ich habe diesen Verbrecher verflucht, der mich im Zug von
Frieda losgerissen hatte!
„Alle Männer zwischen 16 und 40, aussteigen!“ hatten sie
geschrieen.
Im Lager war ich nur ein Kind von 16 Jahren, vielleicht der
Jüngste unter diesen Männern, die aus allen Teilen Europas ka¬
men, zum Teil kräftige, hartgesottene Kerle, darunter sogar
Hafenarbeiter aus Amsterdam, die von ihrer jüdischen Herkunft
nichts gewußt hatten und neben denen ich ein schmächtiges
Kerlchen war.
Und wir alle, mit unseren kahlgeschorenen Schädeln und
eintätowierten Nummern, wir waren zu schwerster Zwangsar¬
beit verurteilt.
Die andern, die im Zug verbliebenen Frauen, Kinder, die, die
älter als Vierzig waren und die Alten, hielt man für ungeeig¬
net, diese Arbeiten zu verrichten.
Unentwegt sagte ich mir, daß mein Platz unter ihnen gewe¬
sen wäre, bei Frieda, die sicher ein besseres Los hatte als die¬
se Hölle zu erleben.
Während der ersten Monate war mein Schmerz, sie verloren
zu haben, stärker als alles, was ich körperlich erlitt. Die Schläge,
der Hunger, die Müdigkeit milderten keineswegs mein Leid,
sie verloren zu haben. Ganz im Gegenteil. Alle fragten wir uns,
was aus denen geworden war, von denen wir losgerissen wor¬
den waren. Aber dieses geschlossene Universum des Konzen¬
trationslagers, in dem wir uns quälten, ließ nicht die gering¬
ste Antwort auf unsere beklemmenden Fragen zu uns durch¬
sickern, kein Hauch von außen gelangte durch die elektrische
Einzäunung.