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Unsere Vorstellungskraft arbeitete am Anfang heftig und entwarf die unglaublichsten Möglichkeiten, um nicht die Hoffnung zu verlieren, aber sehr schnell ließen die hohen Verluste unter uns kaum noch Illusionen zu. So begriff ich sehr bald, daß ich mich in einer Welt von Grausamkeiten befand, die keiner Logik folgten, wo man für ein Ja ebenso wie für ein Nein tötete und keinen Platz für die hehren Gefühle ließ, die man mich gelehrt hatte. Oft dachte ich, daß ich aufeinen anderen Stern gefallen war, von dem ich niemals würde fliehen können, und ich betrachtete meine Henker fast mit Mitleid. Mit der Zeit und all den Wunden blieb uns, ausgemergelt wie wir waren, nur noch der Gedanke an das eigene Überleben. Jeden Morgen, wenn wir zur „Baustelle“ aufbrachen, redete ich mir von neuem ein, daß ich, wenn ich nur diesen Tag noch überstehen würde, gerettet sei. Und selbst wenn ich sterben sollte, sei das nicht schlimm. Meiner Vorstellung nach war nämlich das Leben nur ein kleiner Funke vor der Ewigkeit; mein Leben würde dann eben nur ein bißchen schneller verlöschen. Langsam verwischte sich das Bild von Frieda im Nebel meines Geistes, der von quälendem Hunger und ununterbrochenem Kampf gepeinigt war. Einmal dachte ich sogar, meine letzte Stunde habe geschlagen und ich würde Frieda — wenn sie noch am Leben war — und meine Familie und überhaupt niemanden jemals wiedersehen. Es war im Januar 1945. Ich war im Konzentrationslager Blechhammer in Oberschlesien (Auschwitz III). Der Winter war streng, und ich war mit meinen Kräften am Ende. Was uns dennoch durchhalten ließ und sogar Sterbende wieder mit Leben erfüllte, war der Geschützdonner, den man, wenn auch noch entfernt, hören konnte, und der von Tag zu Tag näher rückte. Die Rote Armee, auf die wir seit Monaten warteten und die wir in Gebeten zu unserer Befreiung herbeiwünschten, schien endlich in Reichweite zu sein. Die SS-Wachmänner wurden immer nervöser. Uns schien es unvorstellbar, daß sie hinnehmen würden, uns, diese Juden, denen gegenüber sie wilden Haß empfanden, eines Tages mit dem Leben davonkommen zu lassen. Es hieß, die Russen seien nur noch 30 Kilometer vom Lager entfernt! Die Anspannung war auf dem Höhepunkt, und wir bereiteten uns auf den besten wie auf den schlimmstmöglichen Ausgang vor — eher wohl auf den schlimmsten. Die Stunden waren gezählt. Wir mußten um jeden Preis durchhalten. Morgens, am 14. Januar dann: allgemeines Sammeln, uns wurde der Befehl gegeben, das Lager zu evakuieren. Wer nicht gehorchte, würde auf der Stelle hingerichtet. Was für unsere Henker ein verzweifelter Versuch war, sich in Sicherheit zu bringen, bedeutete für uns die große Desillusionierung. All unsere Hoffnungen, unsere Träume von einer Befreiung — unvorstellbar nahezu! — verflüchtigten sich kurz vor der Erfüllung. Mit einer Decke auf dem Rücken und einem 400 GrammBrot als einziger Verpflegung, von Schlägen mit Gewehrkolben angetrieben, so ließen die 4500 Gefangenen das Tor des Lagers hinter sich. Wir konnten deutlich die Schüsse hören, die diejenigen hinmetzelten, die sich dazu entschlossen hatten, sich zu verstecken, oder die lieber starben, als noch mehr zu leiden. Ehe wir losgingen, hatte ich aus meinem Versteck einen Schatz hervorgeholt, den ich seit über einem Jahr unter der Strohmatte aufbewahrte und der wie durch ein Wunder dem Diebstahl „aufmerksamer‘“ Nachbarn und den Durchsuchungen durch die SS entgangen war. Dieser Schatz bestand aus zwei 250-Gramm-Beuteln Tabak, die ich unter Umständen bekommen hatte, die ich nie vergessen werde. Ich hütete sie wie einen Rettungsring. Dieses Vermögen verdankte ich meinem Mathematiklehrer Herrn Marcel Dupont, an den ich immer denken werde. Eines Tages im Januar 1944 lud ich auf der Baustelle unter Aufsicht der SS Zementsäcke von einem Zug ab. Auf dem Weg zu den Latrinen kreuzte ich den Weg eines etwa dreißigjährigen Mannes, der mich fragte, ob ich Französisch spräche. Als ich ihm sagte, daß ich Belgier sei, teilte er mir mit, daß er aus Brüssel stamme und Zwangsarbeiter sei. Sicherlich erregte mein körperlicher Zustand sein Mitleid, denn er zog aus seiner Tasche ein Stück Brot, das er mir reichte. Außerdem teilte er mir mit, daß er am folgenden Tag für zwei Wochen auf Hafturlaub nach Brüssel fahren werde und fragte mich zu meiner großen Überraschung, ob ich nicht jemandem, der mir helfen könnte, eine Nachricht übermitteln wolle. Die Frage ließ mich vor Freude aufspringen, aber bei näherem Nachdenken wußte ich nicht recht, an wen ich mich wenden sollte. Meine Eltern würden, wenn sie nicht selbst deportiert worden waren, nicht mehr unter der Adresse zu erreichen sein, an der wir früher gewohnt hatten. Die Versorgungslage in Belgien versprach sicher keinen Überschuß, und in diesen schwierigen Zeiten jemanden zu finden, der das Risiko auf sich nehmen würde, einem Unbekannten ein Päckchen zu übergeben, war sicherlich keine leichte Angelegenheit. Auf einmal kam mir ein Geistesblitz: Ich erinnerte mich an denjenigen Menschen, den ich wegen seiner Intelligenz, seiner Energie und seine Anständigkeit geschätzt hatte und den ich in der schweren Zeit, die ich durchlebte, oft als Vorbild an Willensstärke genommen hatte: an meinen Mathematiklehrer, Herrn Marcel Dupont. Um mein Gegenüber nicht zu sehr zu gefährden, falls er durchsucht werden sollte, kritzelte ich auf das Papierchen, das er mir zugesteckt hatte, rasch Name und Adresse meines Mathematiklehrers sowie die Mitteilung, daß es mir nicht allzu schlecht ginge..., daß aber ein kleines Päckchen nicht von Übel sei. Wir trennten uns danach rasch, und ich ging weg, ohne rechtes Vertrauen in die Sache. Etwa zwei Wochen später — ich war immer noch auf derselben Baustelle eingesetzt, um Waggons zu entladen — bemerkte ich auf dem Bahnsteig meinen Mann, der mir verstohlen Zeichen machte, zu ihm zu kommen. Da ich an diesem Morgen noch nicht von der Erlaubnis Gebrauch gemacht hatte, zu den Latrinen zu gehen, wurde sie mir erteilt. Wie groß war meine Überraschung, als er mir ein Päckchen sowie Grüße von meinem Lehrer überbrachte! Beide Männer waren ein beträchtliches Risiko eingegangen, um mir zu helfen! Ich vergoß Tränen vor Freude. Gleichzeitig ergriff mich aber Panik bei dem Gedanken an die tödliche Gefahr, die es bedeutete, am Abend mit dem verfänglichen Paket ins Lager zurückzukommen. Schnell öffnete ich das Paket und übergab meinem Retter alle darin enthaltenen Konservendosen, selbst behielt ich nur eine Packung Kekse und zwei Päckchen Tabak, die ich unter mein Hemd schob. Tabak wurde im Lager hoch geschätzt, und die beiden Päckchen hatten den Gegenwert von einigen Broten. Mit 27