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klopfendem Herzen hinkte ich an jenem Abend am SS-Wachposten am Lagereingang vorbei. Am folgenden Tag wurde ich auf eine andere Baustelle geschickt, und ich sah meinen Wohltäter, der mir seinen Namen nicht genannt hatte, nie wieder. Der Marsch, zu dem wir wegen des Herannahens der sowjetischen Armee am 14. Januar 1945 gezwungen wurden, war die schlimmste Prüfung der ganzen Gefangenschaft. Daher auch der Name, der ihm üblicherweise gegeben wird: Todesmarsch. Von den 4.500, die wir beim Abmarsch aus dem Lager Blechhammer waren, erreichten drei Wochen später nur etwa 750 Gefangene Buchenwald in der Mitte Deutschlands. Die leidgeprüften dortigen Lagerinsassen, die mit allem möglichen Elend Bekanntschaft gemacht hatten, trauten ihren Augen nicht, als sie unseren gespenstischen Zug ankommen sahen: bis aufs Skelett abgemagerte Gestalten, in dreckige Lumpen gehüllt, barfuß, die meisten von uns halb erfroren, als wären wir einer rabenschwarzen Schauergeschichte entstiegen. Und daß ich überhaupt lebte und mich unter diesen wandelnden Leichen befand, verdankte ich vor allem meinem Mathematiklehrer. Nach fünfzehn Tagen Martyrium auf verschneiten Straßen, bei eisiger Kälte und fast ohne jede Verpflegung und Möglichkeit sich zu waschen, vermochte ich mich schließlich nur noch mit Hilfe dieses oder jenen Leidensgenossen auf den Beinen zu halten. Und weh mir, wenn ich zusammengebrochen wäre! Es wäre mir wie all denen gegangen, die nicht wieder aufstehen konnten — ich ware auf der Stelle erschossen worden. Ich war am Ende meiner Kräfte als ich zudem SS-Mann hinsah, der, mit dem Gewehr in der Hand, neben mir ging. Sicherlich hatte er meine Verzweiflung bemerkt, und vielleicht fühlte er auch sein eigenes Ende, denn er ermunterte mich kurz: „Krieg ist bald aus.“ Ich traute meinen Ohren kaum, daß so etwas von einem SS-Mann kam. Genau in diesem Moment fiel mir ein, daß ich an meinem Bauch die beiden Tabakpäckchen von meinem alten Lehrer, meinem Idol trug. Nervös vergrub ich meine Hand in mein Hemd, aber, Erbarmen, ich zog nur ein leeres Papier hervor: Der Tabak war auf meinem Bauch vertrocknet und durch einen Riß im Papier herausgerieselt. Ich griffnach dem anderen Päckchen, das zum Glück noch heil war, und bot es meinem SS-Mann an. Nachdem er es geöffnet und untersucht hatte, zog er aus seinem Verpflegungsbeutel ein Brot und gab es mir, als er sich vergewissert hatte, daß kein anderer Wachmann ihn beobachtete. Ich war gerettet! Wenigstens vorerst. Mein wohlgehüteter Schatz hatte mir genau zum richtigen Zeitpunkt gedient und mir erlaubt, diese übermenschliche Prüfung zu überleben, die vor den unseligen Toren des Lagers Buchenwald endete. Dort wurden wir in den Baracken für die „wandelnden Leichen“ zusammengepfercht, mit dem ausdrücklichen Verbot, den uns Juden zugewiesenen Teil des Blocks zu verlassen. Wir verdankten es dem Mangel an Brennmaterial, daß wir den Verbrennungsöfen entgingen. Aber man gönnte uns keine Ruhepause. Einige Wochen später konnte man in der Ferne schon lebhaftes Geschützfeuer hören. Diesmal waren es die Amerikaner. Das ganze Lager war in Aufruhr. Aber wir rchneten nicht mit dem immer noch unerbittlichen Haß der SS gegen die Juden, mit dem wir doch schon ausreichend Erfahrung gemacht hatten. Sie gaben uns den Befehl, aus den Baracken herauszutre28 ten, in denen wir eingepfercht waren, und sie achteten darauf, daß auch die Leichen herausgebracht wurden, die dann in der Nähe der Tür auf einen Haufen geschmissen wurden. In Anbetracht meines Zustandes völliger Erschöpfung war meine Wahl augenblicklich getroffen. Lieber würde ich auf der Stelle sterben, als noch einmal loszugehen. So ließ ich mich, als ich mit Knüppelhieben herausgeprügelt wurde und meine Kameraden sich in Reih und Glied aufstellten, auf den Leichenhaufen neben der Tür fallen. Zu meiner großen Befriedigung spürte ich auf mir das Gewicht und die Kälte neuer Leichen, die auf mich geworfen wurden. Sollte der Tod mir zu Hilfe gekommen sein? Endlose Minuten blieb ich so eingeklemmt, und mein Herz klopfte stärker als jemals zuvor. Ich hörte deutlich die Stimmen der SS, die den ganzen jammervollen Zug auf den Lagerausgang zutrieben. Nach dem heftigen Lärm trat dann tiefe Stille ein, die mich unentschlossen verharren ließ. War es besser, aufzustehen und mich irgendwo anders zu verstecken, oder war es besser abzuwarten, bis die Umstände günstiger waren? Ausgeschlossen war, daß ich in die Baracke zurückging, aus der meine Leidensgenossen vertrieben waren. Der Pestgestank des Leichenhaufens brachte mich dann dazu, daß ich mich freischaufelte, bevor noch jemand kam, um ihn wegzuschaffen. Genau in diesem Augenblick entdeckte ein vorbeigehender Kapo, wie ich mich aus dem Haufen herausschaufelte und schrie, daß ich zu ihm kommen solle. Ich sammelte meine ganze Energie, eilte in entgegengesetzte Richtung auf die Baracken der für uns verbotenen nicht-jüdischen Gefangenen zu, und stürzte keuchend in die erste, die ich erreichte. Einer der Insassen kam, wohl durch meine Verzweiflung beunruhigt, auf mich zu. Mein Auftreten und meine jüdische Lagerkennung verrieten ihm wohl, daß ich zu dem Zug wandelnder Leichen gehören mußte, dessen makabren Einzug in das Lager er einen Monat vorher erlebt hatte. „Was ist los?“ fragte er mich auf Französisch. Ich klärte ihn auf, was man mit mir und meinen Kameraden gemacht hatte. Als er erfuhr, daß ich aus Brüssel kam und dort zur Schule gegangen war, teilte er mir mit, daß er gleich mir aus Brüssel war, Jurastudent, und daß er und sein Vater als Mitglieder der Widerstandsbewegung verhaftet worden seien. Da er wußte, daß ich in Gefahr war, brachte er mich dazu, mich unter dem Brett knapp über dem Boden, das sein Lager war, zu verstecken und gab mir eine Scheibe Brot. Was er für mich tat, rührte mich zutiefst. Er wachte einige Tage lang darüber, daß ich unentdeckt blieb und teilte seine magere Ration mit mir. Seine Ermunterungen, so kurz vor dem Ziel durchzuhalten, flößten mir etwas Energie ein. Sein Name ist Andre de Raet. Für mich war es die Bestätigung, daß es außergewöhnliche Menschen gibt. Ich muß wohl unter einem glücklichen Stern geboren worden sein. Denn immer, wenn ich in meinem Gefangenenleben verzweifelt gewesen bin, kam ein Retter und reichte mir einen rettenden Ast. Und seltsamerweise kam dieser Retter jedes Mal aus dem Land, in dem ich geboren bin. Wieder einmal war ich gerade noch einmal davongekommen. Ich erfuhr nämlich, daß alle meine Kameraden, die sich auf den Weg gemacht hatten, in einen Wald in der Nähe von Buchenwald gebracht und dort erschossen worden waren.