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Mit bibliographischer Dokumentation seiner Beitrdge in der antinazistischen Londoner Zeitung (S. 87-88). Wie viele Exilanten ist auch der 1898 im galizischen Nehrybka geborene Joseph Kalmer (urspriinglich Josef Kalmus) trotz großer Produktivität dem Orkus der Vergessenheit anheim gefallen.' Vielleicht müsste man in Kalmers Fall sogar besser sagen: wegen zu großer Produktivität und zu vielschichtiger Interessen. Er war Schriftsteller (Lyrik und Kurzprosa), Übersetzer, Literaturagent, Kulturpublizist, Journalist und Verlagsmitarbeiter in Personalunion — ein Umstand, der die Annäherung an seine Leistungen erheblich erschwert. Allerdings macht gerade dieser Umstand die Auseinandersetzung mit dem von ungeheurer Impulsivität, Neugierde und Kontaktfreudigkeit Getriebenen so lohnenswert. Einige Andeutungen mögen genügen: Am ehesten geläufig ist der Name Kalmer als Förderer der Lyriker Theodor Kramer (1897 — 1958) und Erich Fried (1921 — 1988), weniger bekannt als Literaturagent der erst kürzlich verstorbenen Staatspreisträgerin Hannelore Valencak (1929 — 2004). Mit Franz Kafka soll er befreundet gewesen sein, und einmal behauptete er kokett, er habe ihn zur Kenntnis genommen, als „noch niemand außer Kalmer und Basil - in Wien‘ von ihm wussten. Stets am Puls der Zeit legte er 1946 von London aus dem guten Freund und damaligen Dramaturgen am Wiener Volkstheater Otto Basil (1901 — 1983) den französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre ans Herz’ wie er 1951 kulturvermittelnd den angloamerikanischen Raum mit Heimito von Doderers Werk vertraut machen wollte‘, und zudem bereits ab 1949 Marlen Haushofer (1920 — 1970), später Günther Anders (1902 — 1992), Leo Perutz (1882 — 1957) und George Saiko (1892 — 1962) in den innerösterreichischen Literaturdiskurs zu verankern versuchte.’ Bis in die Gegenwart werden seine großen Übersetzungen neu aufgelegt, so im Schweizer Unionsverlag Mulk Raj Anands (1905 — 2004) „Der Unberührbare“ (2003), ein bewegender Roman über das indische Kastensystem, und im Europa-Verlag Arturo Bareas (1897 — 1957) Autobiographie (2004) — beides übersetzt vor 50 Jahren von Joseph Kalmer.° Es sind zwei von mehr als 30 Buchübersetzungen, zu denen sich noch hunderte Übertragungen von Erzählungen und Lyrik ge Abb. 1: Erica und Joseph Kalmer, Anfang der 50er Jahre. Foto: Österreichisches Literaturarchiv (ÖLA) 30 sellen. Darunter auch die noch heute beeindruckende Anthologie „Europäische Lyrik der Gegenwart 1900-1925“, in der er poetische Proben von „33 Völkern“ darbot, darunter beispielsweise aus der finnischen und albanischen wie auch seiner bevorzugten russischen und französischen Literatur.’ Kaum etwas ist jedoch bislang über den Journalisten bekannt. Zwischenkriegszeit Seine journalistische Laufbahn begann Kalmer, der der sozialistischen Partei stets zugeneigt war und auch der „Roten Garde“ seines Freundes Egon Erwin Kisch (1885 — 1948) angehörte, um 1920 in verschiedenen Wiener Zeitungsredaktionen, u.a. bei der Arbeiter-Zeitung, bei Tag, Abend und Neues Wiener Tagblatt. Eine feste Redaktionszugehörigkeit lässt sich bislang nur für das Neue Wiener Extrablatt für das Jahr 1929 nachweisen.‘ Ansonsten scheint sich der Umtriebige schon sehr früh um eine gezielte Verbreitung seiner journalistischen und literarischen Beiträge bemüht zu haben. Die Prager Presse etwa lud ihn 1920 ein, für sie aus slawischen Sprachen zu übersetzen und am Feuilleton mitzuarbeiten.’ Das Interesse ausländischer Zeitungen an seinen Texten bewog ihn schließlich um 1925, freier Schriftsteller zu werden und seine erste Literaturagentur zu gründen’, mit der er eigene Texte und z.B. auch die einiger Freunde, wie der JournalistenkollegInnen Alfred Magaziner (1902 — 1993) und Alice Penkala (1902 — 1988), vertrieb. Schon mit dieser Agentur erreichte er die wichtigsten deutschsprachigen Städte im benachbarten Ausland. Der Journalist im Exil Kalmers Presselegitimation liefam 31. Dezember 1937 aus und wurde — aus welchen Gründen auch immer — nicht mehr verlängert.'' Im Juni und Juli 1938 wurde er „als jüdischer SudelJournalist‘ von der Gestapo in Schutzhaft genommen, aus der er „durch einen zeitgerecht gekommenen Ischiasanfall“"® und mit der Auflage, das Land zu verlassen, entkam. Kalmer flüchtete in die Tschechoslowakei, wo er auf ein amerikanisches Visum wartete. Währenddessen arbeitete er mit Paul Roubiczek (1898 — 1972) an der 1947 in London erschienenen Jan-HusBiographie „Warrior of God“, die zu seinem Leidwesen nie in deutscher Sprache erschien. Da das Visum ausblieb und der drohende Kriegsausbruch keinen Aufschub zuließ, erreichte er erst am 25. August 1939 durch die Intervention seines Journalistenkollegen Fritz Josefovics (1908 — 1967) und des Sekretärs des deutschen Exil-PEN Rudolf Olden (1885 — 1940) England. Um der Internierung zu entgehen, wandte er sich auf Oldens Rat an Robert Neumann (1897 — 1975). Schließlich wurde Kalmer wie auch Neumann 1940 im Mooragh Internment Camp auf der Isle of Man interniert. Als Herausgeber arbeitete er dort u.a. mit Neumann und Bruno Heilig (1888 — 1968) an der Lagerzeitung Mooragh Times.“ Nach der Internierung konnte Joseph Kalmer zunächst seine tschechischen Kontakte wieder nutzbar machen. So war er bei der tschechischen Exilzeitung Cechoslovak, wo seine spätere Ehefrau Erica (1913 — 1987; vgl. Abb. 1) als Sekretärin des Herausgebers Bohuslav Bene$ arbeitete, für „Kolonialpolitik