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zu Österreich blieb ambivalent — große Sehnsucht nach der verlorenen Heimat und vage Vorbereitungen zu einer möglichen Rückkehr einerseits, strikte Vorbehalte und Ablehnung andererseits. Sarkastische Äußerungen über den österreichischen Journalismus waren nicht selten. Sehr typisch für ihn schreibt er etwa: „Wenn ich den Verkehrston der österreichischen Zeitungen, bzw. der Redakteure, die mit einem Sessel unter dem mehr oder weniger geräumigen Hintern sich Gott weiß wie erhaben über Autoren und Agenten vorkommen, mit dem der Schweizer und der großen deutschen Gazetten vergleiche, denke ich immer an Kalmers älteste Binsenweisheit: ‚Größenwahn stärkt das Selbstbewußtsein’.““” Allerdings: Solch ein Sessel wäre auch Kalmer zur Verfügung gestanden, nicht zuletzt deshalb, weil er als Agent gute Kontakte zu den Redaktionen pflegte und viele seiner früheren Kollegen nun an entscheidender Stelle saßen. Mehrfach berichtete er in den fünfziger Jahren seiner Gattin enthusiastisch über entsprechende Offerte, die eine Anstellung bei einer geplanten Wochenzeitung im sozialistischen Vorwärts-Verlag ebenso inkludierten wie die Leitung der Redaktion von Arbeit und Wirtschaft oder der Londoner Redaktion der Oberösterreichischen Nachrichten”. Dass ihn Angebote an beiden Orten gleichermaßen lockten, zeigt, wie gespalten er war. In der Folge begnügte er sich damit, bei seinen WienAufenthalten die heimischen Gazetten verstärkt mit seinen und den Artikeln seiner Agentur zu versorgen, während seine Gattin Erica die Geschäfte in London weiter führte. Seine letzten drei Lebensjahre verbrachte er dennoch überwiegend in Wien. Dies aber vornehmlich deshalb, weil seine gesundheitlichen Probleme Rückreisen nach London erschwerten. Sein Traum, in Wien einst die Erbschaft des Vaters Max Kalmus (1875 — 1966) antreten zu können und eine ruhige Pensionistenexistenz zu verbringen, erfüllte sich nicht mehr. Am 9. Juli 1959 erlag er in der alten Heimat einem dritten Herzinfarkt. 32 Joseph Kalmer und „Die Zeitung“ Um die Themen, Eigenarten und Verdienste des Exiljournalisten Kalmer etwas genauer einkreisen und bestimmen zu können, konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen auf die Londoner Zeitung. Die vornehmlich dokumentarische Ausrichtung dieser Darstellung (inklusive Wiederabdrucks ausgewählter Beiträge) verfolgt vor allem das Ziel, zu einer weiterführenden Beschäftigung — bis hin zur interdisziplinären Analyse, z.B. von Publizistik und Geschichtswissenschaft — mit den engagierten antifaschistischen Arbeiten des Journalisten anzuregen. „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,/ Der täglich sie erobern muss.“ In diesen Worten des sterbenden Faust fand die Redaktion der Zeitung in ihrer ersten Ausgabe vom 12. März 1941 die Quintessenz ihrer Bestimmung: der Kampf gegen Hitlerdeutschland und das (idealistische) Ziel, eine deutsche bzw. deutschsprachige Einigkeit unter den Exilanten zu erzielen, denn die deutsche Sprache könne „immer noch eine Waffe des freien Gedankens und des schöpferischen Geistes sein‘. Bereits am 9. September 1940 hatten Hans Lothar (1900 — 1944) und Sebastian Haffner (1907 — 1999)?! dem Ministry of Information ein Memorandum vorgelegt, in dem sie die Einigung der zersplitterten deutschsprachigen Exilgruppierungen als ihr Hauptziel formuliert und den Mangel eines gemeinsamen Organs herausgestrichen hatten: „An aim of the paper is the political and administrative coordination and collaboration ofthe emigres in order to bring them into tune with the English war effort, thus forming a political and strategic centre for a revolution inside Germany.” Die Europaabteilung des Ministry of Information genehmigte das Projekt, und so konnte Die Zeitung als einzige „freie, unabhängige deutsche Tageszeitung‘ in Europa erscheinen, zunächst täglich mit vier Seiten, ab dem zweiten Jahrgang auf Grund der Papiernot wöchentlich mit zwölf Seiten (ab Nr. 250 vom 2.1. 1942). Eine Auflage von 20.000 Exemplaren wurde zu einem Drittel als Dünndruckausgabe über Deutschland abgeworfen und Auslandsdeutschen in verschiedenen Ländern zugänglich gemacht.‘ Wie Charmian Brinson und Marian Malet anhand der Akten des Foreign Office belegen, sah die britische Behörde den Nutzen vor allem in der Mobilisierung für eine gemeinsame Propaganda gegen Hitlerdeutschland. Die Gründung der Zeitung stand damit an einem wichtigen Wendepunkt der britischen Asylpolitik, gewissermaßen eine Versöhnungsgeste des Gastgeberlandes: Hatte man den deutschsprachigen Flüchtlingen bislang misstraut, sie als „enemy aliens“ in Internierungslager abgeschoben, erkannte man nun, dass man sie unter zu strenge Kontrolle gestellt hatte.” Mit der Zeitung hoffte man, ihnen „a comparatively harmless outlet for their energies‘** zu geben. Um diese Energien richtig zu kanalisieren, wohnte den Redaktionssitzungen ein Beamter des Foreign Office bei, der allerdings — wie Sebastian Haffner bezeugt*’ — nur sehr selten von seinem Zensurrecht Gebrauch machte. Dass Die Zeitung ihr Erscheinen pünktlich mit Kriegsende einstellte, war allerdings nicht die Entscheidung der Redaktion, wie sie selbst in ihrem Artikel „Am Ziel“ (Nr. 427 vom 11.5 1945, S. 1 u. 12) suggerierte, sondern wurde bereits ein knappes Jahr zuvor vom Ministry of Information festgelegt: „It was decided by our authorities that the paper is to cease publication with the ending of hostilities in Europe.““* Anfang Juli 1941 lieferte Joseph Kalmer seinen ersten Beitrag „Russlands Zugang zum Atlantik. Ein neuer Hafen im Weissen Meer“, in der vorletzten Nummer im Mai 1945 nahm er mit dem