Der Schreiber dieser Zeilen lernte den Artilleriehauptmann Bruno
Alexander Lohr nach dem Zusammenbruch der österreichischen
Monarchie kennen. Der schwarzhaarige Mann mit vor Ehrgeiz
brennenden Augen hatte nach dem Kriegende 1918 gewisse
Sympathien für die Sozialdemokratie gezeigt, die in der ersten
Nachkriegsregierung Österreichs den Heeresminister gestellt hat¬
te. Hauptmann Löhr saß in einem der 2.500 Zimmer des Kriegs¬
ministeriums am Wiener Stubenring und bearbeitete eines der
Ressorts der Sachdemobilisierung. Für einen jungen Offizier,
der in der durch den Friedensvertrag von St. Germain auf 30.000
Mann reduzierten Armee keine Aufstiegsmöglichkeiten sah, war
das keine aufregende Beschäftigung. Vielleicht warf sich Löhr
darum auf die Militärschriftstellerei.
1920 fand ich einen Aufsatz Löhrs über FLAK in der „Mili¬
tärwissenschaftlichen Rundschau“, einer alten österreichischen
Offizierszeitschrift, die den Untergang des Habsburgerreiches
überdauert hatte. Dann tauchten seine Aufsätze auch in ande¬
ren Zeitschriften auf. Sie beschäftigten sich mit Luftschutz und
Theorie des Luftkriegs.
Chef der österreichischen Luftwaffe
Mit der zunehmenden Modernisierung des österreichischen
Heeres wurde Löhr zur Luftwaffe versetzt, die freilich nur ein
papierenes Dasein führte. Löhr wurde zum Organisator des pas¬
siven Luftschutzes — aktiven konnte sich das finanziell schwa¬
che Österreich nicht leisten.
Das Jahr 1935 brachte Löhr seinen großen Tag. Der inzwi¬
schen zum Generalmajor ernannte wurde Befehlshaber der öster¬
reichischen Luftwaffe. Die Welle der Wiederaufrüstung hatte
- inoffiziell, aber von den Großmächten geduldet - auch Öster¬
reich erfaßt. Es kann den Militärattaches der in Wien vertrete¬
nen Mächte nicht entgangen sein, daß neue Uniformen in den
Straßen Wiens auftauchten — mit den in allen Luftflotten übli¬
chen Propelleremblemen.
Copyright Irena Marner, London. — Die Texte wurden von der
Redaktion in Bezug auf Rechtschreibung vereinheitlicht und, wo
nötig, stillschweigend korrigiert.
Freunde fragten manchmal: „Ihr seid doch Brüder - habt ihr nie
miteinander gestritten?“ „Nie“, erklärte der jeweils Befragte.
„Wozu denn? Mitten im Mund hat jeder von uns eine Zunge,
wir können uns miteinander verständigen, wozu Streit?“ Hinzu
kam, dass Jordan um sechs Jahre älter war als Siegfried, und
diesen Unterschied gern gelten ließ, um Entscheidungen dem
Bruder zu überlassen, der sie jedoch nie traf, ohne die Sache
mit dem Jüngeren eingehend besprochen zu haben. De facto wa¬
ren es immer Beschlüsse beider. Dem Familienfrieden unge¬
mein förderlich, ja sogar eine wichtige Voraussetzung für ihn
war, dass auch zwischen Helene, Jordans Frau, und meiner Tante
Jolan, der Schwester meiner Mutter, mit Siegfried verheiratet,
das beste Einvernehmen bestand.
Auch in einem anderen Punkt ihres Lebens, des privaten und
des geschäftlichen, unterschieden sich die beiden Brüder von
sehr vielen anderen: Sie waren bedingungslos gesetzestreu. Als
Österreich die Auslandsguthaben seiner Bürger für anmelde¬
pflichtig, erklärte, erblickten die meisten Inhaber solcher Activa
in dieser Vorschrift ein Warnsignal. Anmeldepflicht? Wozu? Die
hatte doch nur Sinn, wenn die Guthaben griffbereit gemacht wer¬
den sollten, für andere Griffe als die der Eigentümer. Man muss¬
te sich also auf weitere Vorschriften gefasst machen, neue
Abgaben unter irgendeinem Titel, eine Besteuerung der Aus¬
landsguthaben, vielleicht den zwangsweisen Umtausch auf un¬
sichere Staatspapiere — niemand wusste etwas, allein man be¬
reitete sich vor. Nicht so Jordan und Siegfried, die der von an¬
deren als naiv belächelten Auffassung waren, dass man zum ei¬
genen Lande Vertrauen haben müsse. Was sollte sonst aus dem
Lande werden? So wohlhabend sie waren, ihr Vermögen befand
sich zur Gänze im Inland.
Als in der Nazi-Zeit dekretiert wurde, dass Juden ihre Wert¬
gegenstände, vor allem Schmuck abzugeben hätten, zögerten
Jordan und Siegfried nicht einen Augenblick, „ihre Pflicht zu
erfüllen“, wie sie es ausdrückten. Den als Gesetz verkleideten
Raub betrachteten sie allen Ernstes als Grundlage einer Pflicht¬
erfüllung. So sehr hatten die Frauen, die eigentlichen Verlust¬
träger bei einer Schmuckablieferung, die Denkungsart ihrer
Männer übernommen, dass sie mit keinem Wort protestierten.
Mit einer kleinen Ausnahme. Zufällig war ich dabei, als beide
Frauen in Jordans Wohnung ihre Schmuckstücke, zum großen
Teil aus der Bank geholt, zusammenlegten und die Brüder je
eine Liste anzulegen begannen. Da bat Helene ihren Mann, ein
einziges Stück, eine Brillantbrosche, behalten zu dürfen. „Ich
hab sie heute an meiner Bluse, laß sie mir bitte! Nicht wegen
des materiellen Wertes, sondern wegen der Bedeutung, die sie
für mich hat. Wegen der Erinnerung, wegen — du weißt es ja!“
Jordan zog die Hand, die sie unwillkürlich auf die Brosche ge¬
legt hatte, weg und nahm ihr das Schmuckstück gewaltsam von
der Bluse. „Es ist Gesetz!“ Lex dura, sed lex, sagte man in Rom.
Jordan sagte es auch und sonst nichts.
Lex dura! Es kamen noch viel härtere Gesetze, erbarmungslos
gehandhabt. Der systematische Abtransport der Juden begann,
wer konnte, der floh ins Ausland. Die beiden Brüder nicht. „Hier
bin ich geboren, hier will ich sterben“, sagte Siegfried einmal
zu mir. Diese Haltung ändere sich, als die jungen Familien¬
mitglieder, wo immer sie sich befinden mochten, nach und nach
Fuß gefasst hatten und die Älteren beschworen, alles zu tun, um
ihnen so bald wie möglich — Zeit war zu einer Bedrohung ge¬
worden — nachzufolgen. Da wurde die Sehnsucht nach Wie¬
dervereinigung der beiden Generationen, mit Rücksicht auf die
Schwierigkeit des Existenzaufbaues der Jungen von den Älte¬
ren lange Zeit mühsam unterdrückt, mit aller Macht lebendig
und führte zu verzweifelten Bemühungen um die Bewilligung
von Einreisen — Einreisen in irgendein Land, denn, einmal fern
von Deutschland, würde man den Weg zu den „Kindern“ schon
finden. Allein sie machten trübe Erfahrungen. Die auf ihre Frei¬