OCR
heit so stolzen Demokratien verurteilten Deutschland zwar, hielten jedoch ihre eigenen Tore fest geschlossen. Ausnahme: Shanghai, gewiß keine Demokratie. Aber die „Formalitäten“ fraßen Zeit. Zu viel Zeit. Wer die Idee hatte, war später nicht festzustellen, doch unsere Nachforschungen bei dem Apotheker, der Polizei und bei Anna Truhlar ergaben ein, wenn auch nicht vollständiges, so doch immerhin ausreichendes Bild. So wie die beiden Ehepaare immer einig waren, so auch in dem Entschluß, den Tod, ehe er sich als Mord auf sie warf, als einen Freund selbst zur letzten Hilfe zu holen. Noch schien es sinnvoll zu warten und sich um eine Ausreise zu kümmern. Vielleicht würde die ersehnte Wiedervereinigung mit den in die Sicherheit des Auslands entkommenen Geschwistern und Kindern doch möglich sein. Die Nachrichten, die ein befreundeter Schwarzhörer ihnen leise, leise zukommen ließ, deuteten darauf hin, daß Deutschland den Krieg verlieren werde. Noch — oder schon — durfte man hoffen. Freilich, der gefürchtete Befehl, sich an einem bestimmten Tage zu bestimmter Stunde am Bahnhof einzufinden, wenn man nicht ohnehin abgeholt wurde, dieser einem Todesurteil gleichwertige Befehl konnte schon morgen kommen und Deutschlands Niederlage zu spät. In einem von der Firma der Brüder, einer großen, bekannten Hausverwaltung, verwalteten Gebäude befand sich eine Apotheke, deren Inhaber sich mit ihnen gut verstanden hatte, weil sie seine gelegentlichen Sonderwünsche stets entgegenkommend berücksichtigt hatten. Jetzt fühlte er so etwas wie eine gewissensgebotenc Verpflichtung, als sic ihn um seine Hilfe baten, wobei sie jedoch betonten, dass sie für eine Ablehnung Verständnis haben würden, da ein gewisses Risiko nicht abzuleugnen sei. „Das Risiko nehm’ ich auf mich“, hatte er geantwortet. „Ich versteh Sie sehr gut, aber ich bitt’ Sie, überdenken Sie’s noch! Vielleicht geht alles gut aus, es schaut ja so aus, warum also schon jetzt aufgeben?“ Nicht jetzt, erklärten sie ihm, erst im letzten Moment, wenn es absolut sicher sei, dass es keine Rettung gebe, dass es nur noch um Minuten gehe. Wenn man sie abholen oder zur Bahn bestellen würde. „Eine Reserve für so einen Notfall“, nickte der Apotheker. „Is’ schon recht, ich schick’s Ihnen heut’ am Abend. Oder nein, ich bring’s selber, is’ sicherer.“ Eine Bezahlung nahm er nicht. Die Spur, die zur Apotheke geführt hatte, war von Hadersdorf ausgegangen. Dort, nahe Wien, wohnte Anna Truhlar, die Bügelfrau der ganzen Familie, eine primitive Person, deren derbe Ausdrucksweise in guten Zeiten oft Heiterkeit erweckt hatte. Wenige Jahre nach Kriegsende kam ein Neffe Jolans aus Bolivien zu Besuch nach Wien. Auf der Suche nach Informationen über Angehörige fuhr er nach Hadersdorf. wo er Anna Truhlar fand, grauhaarig, aber nicht feiner geworden. „Früher hab i de Wäsch gleich im Haus begelt (gebügelt)“, erzählte sie, „bei deina Muatta, bei olle. Aber wia’s dann nur a anzigs Zimmer ghabt ham und fremde Leut’ in da Wohnung, da hab i die Wäsch immer abgholt und hab’s bei mir daham begelt und dann hab i ‘s zrucktragn. Na, und wia wieda amoi de Zeit kumma is zum Abholn, bin i einigfahrn zu deina Tant’, zur Frau Jolan, mit an Buschen Blumen von mein’ Garten. Da hat mir ganz wer Fremder de Tür aufgmacht und gsagt, de hat ma zur Bahn bstellt und se san nimma zruck kumman. Da hab i d’ Blumen um d’Erd ghaut und bin aufs Kommissariat grennt. Durt hams ma g’sagt, es stimmt, und no was anders dazua hams gsagt 38 — se ham a Gift bei sich ghabt. Ob s’es gnommen ham, waas i net, besser war’s schon gwesen, da hätten s’sich vü derspart.“ Ohne viel Mühe fand der Neffe den Apotheker, der ihm sein Gespräch mit Jordan und Siegfried genau wiedergab. Das letzte Stück Information erhielt er von der Polizei, wo es ein Aktenstück gab, darin ein Brief Siegfrieds an seinen Sohn Hans. Ohne Adresse, doch mit dem Vermerk, dass der Brief auch einem anderen Familienmitglied ausgehändigt werden dürfe. Als Hans nach dem Krieg nach Wien kam und sich meldete, bekam er gegen Empfangsbestätigung den Brief, der bei einem gerichtlich beeideten Notar hinterlegt worden war. Hans übergab mir bei einer Zusammenkunft eine Fotokopie. Siegfried schrieb von den vier Kapseln. Sie hatten die einzige Unstimmigkeit im Leben der beiden Brüder verursacht. Wieder hatte es eine Welle von Verhaftungen gegeben, Aufregung, Angst. Genug! fand Jordan. Er schlug seinem Bruder vor, nicht länger zu warten. Die Sache Shanghai ziehe sich in unabsehbare Länge, die Verhaftungen folgten immer schneller aufeinander, die Vernunft sage klar, dass es keine Chance mehr gebe. Schluß machen! Ein Abendessen zu viert, so fein wie möglich, ein liebevolles „Gute Nacht!“ für immer, dann sollte jedes Ehepaar sich in sein Zimmer begeben und das noch zu Erledingende tun. Gewiß hatte Jordan nicht erwartet, daß sein Bruder Einspruch erheben würde. Siegfried wollte die dünne Hoffnung nicht aufgeben. Auch habe man besprochen, bis zur letzten Minute zu warten. Eine Kapsel zerbeißen, das sei Sache einer Sekunde, er sci dagegen, schon jetzt allcs aufzugeben. Ja, vielleicht würde man, wenn man das nicht tue, das KZ überleben, das sei immerhin möglich, man wisse von solchen Fällen. Jordan sah ihn wehmütig an. „Ich weiß schon, Siegfried. Ihr beide habt einen Sohn, den ihr um jeden Preis wieder sehen wollt. Vielleicht würde ich auch so denken, aber unser Sohn ist tot. Schon 1938 ermordet. Worauf sollen wir warten?“ Ein paar Tage später fragte er seinen Bruder noch einmal. Vergeblich. Keiner von ihnen konnte anders. Nach dem Nachtmahl umarmten sie einander, alle vier, dann gingen sie schlafen. Am nächsten Morgen kamen Jordan und Helene nicht aus ihrem Zimmer. Siegfried und Jolan schrieben gemeinsam den Brief an ihren Sohn. Sie wüssten, daß Schweres auf sie zukomme, allein seit sie zwei Giftkapseln besäßen, seien sie viel ruhiger. Die Gewissheit, sich mit einem Biß sich von allen Qualen befreien zu können, gebe ihnen die Kraft, diese zu ertragen, mochten sie auch sehr arg sein. Die Kapseln in der Tasche zu fühlen, mache einen zum Herrn des eigenen Schicksals — aber seltsam, es verleihe ihnen auch die Zuversicht, zu überleben. Hans solle mit ihnen hoffen, die Kapseln seien eine Garantie für sie und ihn. Nicht zum Tode, sondern zum Leben würden sie ihnen helfen. Ich las den Briefin Gegenwart meines Cousins und sagte ihm sofort, dass ich mir das Geschilderte gut vorstellen könne. Mit den Kapseln hatten sie durchgehalten, solange es ihnen physisch und seelisch möglich war, und als es nicht mehr ging, friedlich Schluß gemacht. Hans sah mich traurig an. „Du weißt noch nicht alles. Als man den Brief fand, lag daneben ein kleines Kuvert, unbeschriftet. Es enthielt die zwei Kapseln. In der Aufregung des Aufbruchs, des Verlassens der Wohnung, hatten sie das vorbereitete Kuvert übersehen. Hatten die Kapseln, Erlösung im Notfall, vergessen. Nichts ist ihnen erspart geblieben, alles, dem sie entgehen wollten, haben sie ertragen müssen bis nicht sie selbst, sondern die Henker Schluß mit ihnen machten.“