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Hier — Charosset, ungewöhnlich im Geschmack, bitter in der Erinnerung. Eine graue, feuchte Masse aus geriebenen Nüssen und Äpfeln, vermischt mit Wein soll uns an den Mörtel, mit dem unsere Urväter unter den Peitschen die Steine für ägyptische Monumente verbunden haben, erinnern. Heute wird der erste Nachkriegs-Charosset für mich den Geschmack des Zementstaubes haben, der meinen Vater an jenem Tag in Stutthof umwölkte, als er in seiner gestreiften Häftlingsuniform, keuchend, gebückt, die Zementsäcke vom Schiff herunter trug. Hier — Maror. „Mar“ heißt hebräisch bitter. Ein unnötiges Symbol. Wir sind es, wir alleine, die die Bitterkeit dieser und jeder anderen Nacht an diesem und jedem anderen Tag im Mund tragen. Hier die Frucht der Erde - ein Erdapfel. Gelobt sei Gott von Israel, der du uns die Frucht der Erde gabst. In Pirna, im KZ habe ich einmal eine Frucht der Erde, eine Kartoffel, gestohlen. Hertha, die SS-Aufseherin ertappte mich dabei und schlug mich zusammen. Mein Gesicht schwoll an, mein Zahnfleisch blutete, nachts, wie ein Tier, fraß ich die ungesalzene, ungewaschene, rohe Kartoffel, die Frucht der Erde auf. In der Mitte des Tisches, in einer weiß leuchtenden Terrine hartgekochte Eier im Salzwasser. Weil das Wasser des Roten Meeres salzig war, weil die Tränen der Urmütter salzig waren. Wie war die Ostsee als man vor dem Beginn der Sowjetoffensive die menschlichen Überreste des Stutthof KZ-Lagers schleunigst ertränkt hat? Dort, in diesem salzigen Wasser, an dem kein Wunder geschah und kein Moses erschien, wurden Tola und Dziunis, Halina und Dodo ermordet. Am anderen Ende des langen, langen Tisches standen zwei silberne Kerzenleuchter. Zwei Kerzen, noch fest, schlummernd 40 in ihrer Jungfräulichkeit, harrten der Berührung des Feuers. Endlich läutete es. Tante Regina warf sich zur Tür und nach einer Weile führte sie einen hochgewachsenen, gutaussehenden Mann mit grauem Haar und dunkler Haut herein. Keine Spur einer Ähnlichkeit mit Onkel Max. „Herzberg“, stellte sich der Mann vor, „ich kenne Ihren Vater. Sie habe ich auch einmal gesehen, aber da waren sie noch so klein.“ Er machte mit der Hand eine Andeutung. „Ja, es hat sich viel geändert. Max, wie geht das Bussiness? Ich hörte am Wasser, daß die Geller eine Vertretung gab. Stimmt’s?“ „Nur keine Geschäfte!“ intervenierte Tante Regina. „Dazu habt ihr noch Zeit genug! Sag lieber, hast du Nachrichten von Dora?“ „Servus Fred, wie geht’s den streikenden Ärzten?“ Freundlich klopfte Herzberg Fredek auf die Schulter. „Nie so gut, wie es den Strohwitwern geht!“ antwortete Fredek lächelnd. Herzberg begann Tante Reginas Fragen zu beantworten. Dora sei entzückt, Lili seekrank, und so weiter, und so weiter. „Sie müssen wissen“, wandte er sich mir zu, „meine Frau und meine beiden Töchter sind jetzt für einen Monat nach Israel gefahren. Heute feiern sie bei meinem Schwiegervater, einem alten Israeli. Und meiner vereinsamten Seele hat sich Regina angenommen.“ „Ja, höchste Zeit, sich zu Tisch zu setzen“, fuhr Tante Regina energisch dazwischen. „Sonst werden wir nicht fertig?“ Schweigend nahmen wir unsere Plätze ein. Mein Platz war zwischen der Tante und Fredek. Fredek war ungewöhnlich ruhig an diesem Abend, wahrscheinlich ein bißchen gehemmt durch die ungewohnte und verkehrte Situation. Er glaubte nicht, er praktizierte nicht, er war hier — genau wie ich — anwesend und tat feierlich, nur um den Eltern Genugtuung zu verschaffen. Tante Regina zündete die Kerzen an. Sie bedeckte die Augen und flüsterte still, in sich gekehrt, die Segensworte. So hatten es auch meine Mutter und die Mutter meiner Mutter getan. So tun es alle jüdischen Frauen zur Begrüßung des Samstags, zur Begrüßung des Feiertages. Onkel Max begann zu beten. Er betete in „aschkenazit“Dialekt, mich lehrte man in meiner Kindheit im „sephardit“Dialekt zu beten und zu sprechen. Ich verstand wenig, fast nichts, aber als ich die Haggada, aus welcher der Onkel las, öffnete, geschah es, daß ich die Bedeutung der seit Jahren nicht gesehenen hebräischen Buchstaben wieder erkannte, und daß sie sich zu bekannten, nebelhaften Worten formten. Langsam, ganz langsam kam ich dem melodischen Gesang von Onkel Max nach. Von Zeit zu Zeit zeigte mir ein manikürter beringter Finger, Tantes Finger, die richtige Textstelle an. Meine Haggada hatte wunderschöne, einfache schwarzweiße Illustrationen. Die ägyptischen Plagen waren in ihnen mit der grausamen Phantasie mittelalterlicher Gemälde dargestellt. Die Menschen waren riesig, halbnackt, bärtig, die Gegenstände klein und entfremdet. Schön war diese Haggada. Der Seder folgte seiner seit Jahrhunderten bestimmten Ordnung. Die Kerzen warfen zitternd rosiges Licht auf unsere Gesichter, mit kleinen Schlucken tranken wir den Rotwein, bis auf einmal Onkel Max seinen Gesang unterbrach und, auf die Tischdecke starrend, fragte: „Wer sagt Ma nischtanne?“ „Wer sollte es denn sagen? Fredek natürlich!“ In der Vorahnung eines heranrückendes Gewitters flatterte Tantes Stimme.