OCR
„Oh nein, meine Liebsten, mich haltet ihr hier gefälligst heraus. So vollständig mach ich diese Vorstellung nicht mit.“ Onkel Max schaute noch immer auf die Tischdecke. Er hätte doch ruhig auf dieses unselige Ma nischtanne verzichten können. In den vergangenen Jahren war Fredek beim Seder überhaupt nicht anwesend gewesen, und es war auch ohne ihn gegangen. „Na ja, wenn dir so sehr daran liegt, Max, mach ich es in Vertretung meiner Töchter“, sagte verlegen Herzberg. Ich hatte es nicht überdacht, als ich, für mich selbst, unerwartet, erklärte: „Nein, bitte ich.“ Dabei war es doch für mich genau dieselbe blöde Vorstellung wie für Fredek, vielleicht für mich sogar noch blöder. Nicht genug, daß ich verlogen war: Mit meiner unsinnigen Freiwilligkeit schuf ich eine neue, unangenehme Situation, gab den heimlichen Hoffnungen auf irgendeine große Bekehrung Grund. Wie idiotisch ich mich benahm, wie unüberlegt. Fredek glotzte mich erstaunt an. Dabei wollte ich doch nur für einen kleinen Moment meine Kindheit zurückrufen. Es gibt solche Augenblicke in denen man glaubt, dieselbe Situation schon einmal erlebt zu haben, irgendwann, irgendwo, denselben Geruch, Geschmack, die Lichtempfindung, — Augenblicke in welchen man wie unter Zwang handelt. Und noch etwas. Mein Onkel, dieser alte, unsympathische Mensch, dem alles, was er liebte in den trockenen Handflächen zerfiel, tat mir leid. Er wollte doch nur seinen kostbaren aus dem Brand geretteten Glauben jemandem weitergeben — und niemand wollte ihn nehmen. Keiner wollte Fragen stellen und keiner wollte Antworten hören. Also stand ich — verlogen und doppelgesichtig — auf und fragte mit den Worten meiner Kindheit, die ein Nachhall einer vernichteten Welt sind, wodurch sich diese Nacht von allen anderen Nächten unterscheide. Seine traurigen, müden Augen waren mit beschämender Dankbarkeit auf mich gerichtet. Und mir brach die Stimme. Nur für dich ist diese Nacht ungewöhnlich, mein armer Onkel. Nur für solche wie dich und für kleine Kinder ist es eine verzauberte Nacht, die vergangenen Ruhm und verblichene Wunder zurückruft. Ich bin aber kein Kind mehr. Ich gehe nur von weibischem, tränenseligem Mitleid über. Tante Regina denkt an die Mazza-Knödel, die nicht zerkochen dürfen. Herzberg denkt: „Armer Max. Wird schon alt und kindisch.“ Fredek denkt... Woran denkt Fredek? Höchstwahrscheinlich daran, daß die Vorstellung sich in die Länge zieht, und ich mich blöd anstelle. Oder denkt er an Monika? Singsang, Herzberg murmelte mit. Tante Regina war mit den Augen der Seele schon bei den Töpfen und lief alle zwei Minuten in die Küche, um sie unter Kontrolle zu halten. Fredek und ich saßen schweigend. Dann läutete die Eingangsglocke. Wir zuckten alle zusammen. Keiner würde es zugeben, daß er erschrak, und doch saßen wir wie versteinert, als ob wir irgendeine verbotene, verfolgte Sache getrieben hätten. Wir hörten, wie Walli die Tür öffnete. Alle waren wir ganz still, alle erwarteten wir im nächsten Augenblick Schreie, Hiebe, Vernichtung. Was für ein Unsinn! Und doch - so war es. Walli trat herein und flüsterte etwas in Tante Reginas Ohr. Das Gesicht meiner Tante war nicht mehr erschreckt, es war unermeßlich verwundert: „Bitte, sagte sie, bitte er soll ablegen und hereinkommen...“ Fragment aus dem Nachlaß, entstanden vermutlich in den späten 1960er Jahren in Wien. — Zu Tamar Radzyner vgl. Konstantin Kaiser, „Erster Versuch über Tamar Radzyner“, in ZW Nr. 2/2003, S. 58-62. Zwei Jungen lehnen sich aneinander cheek-to-cheek, mit offenen Armen, die rechte Hand in der linken des anderen, die linke Hand in der rechten, und betrachten einander aus den Augenwinkeln. Ab und zu bewegt noch der eine einen Finger auf der Handfläche des anderen. Sie befinden sich auf einem Lastwagen und transportieren eine Fensterscheibe. Auf der Kiseleff Chaussee kann der Wagen beschleunigen, wobei die Fensterscheibe unter den verschwitzten Händen der zwei Jungen knirscht, anläuft und schließlich zu einem Spiegel des rötlichen Sonnenlichts und der Baumschatten wird. Schon vor dem Antipa Museum erkennt man nur noch das rote Führerhaus des Lastwagens — der Rest ist Lichtspiegelung. Der Wagen biegt rechts ab, hinter die Wohnblocks. Auf einmal erscheint vorne ein großer grüner Müllentsorgungswagen, mit der Hinterschaufel voll Zigeunerinnen mit farbigen Röcken und wehenden Zöpfen. Es ertönt das Lied „Talentierte Ballerina, du hast mein Herz durchbohrt!“ Als sie an dem Auto mit den zwei Jungen vorbeifahren, jauchzen alle Zigeunerinnen auf und winken mit Händen und Schals. Eine alte Zigeunerin spuckt auf die Fensterscheibe, noch bevor diese hinter einem Wohnblock verschwindet. Hinter den Wohnblocks kommen mehrere Menschenreihen hervor, die in die U-Bahnöffnung abfließen. Sie steigen hinunter, tiefer und tiefer. Klapp, klapp, klapp, alle in derselben Richtung. Nur ein Alter mit roter Coca-Cola-Kappe drängt sich in entgegengesetzter Richtung durch, wobei er zwei Säcke über alle Häupter gehoben hält. Er singt (ein bisschen falsch). Weiter unten augenschmerzendes Neonlicht. Es kommt eine weichselrote U-Bahn. Sobald die Türen aufgehen, drängen sich die Menschen durch die Einstiege. Die Türen schließen, und durch die Fenster kann man nur noch zerdrückte Kleider erkennen, eines mit grünem Blumen-Imprime — und jeweils eine gegen das Fenster gepresste Hand. Die weichselrote U-Bahn verschwindet im Tunnel. * Stille. Dunkel. Man hört ein Plätschern. Die Stimme einer Alten: — Virgil Liebling, mach bitte das Licht an! Die Stimme eines Alten (zögernd): — Und was, wenn es einen Kurzschluss gibt? Sie (autoritär): — Mach du erst das Licht an, und dann werden wir sehen, ob es einen Kurzschluss gibt oder nicht! 41