Hinter doppelten Vorhängen
Haben Sie jemals gelebt, als würde es Sie nicht geben,
als wären Sie ein Schatten,
fast ohne Stimme
hinter doppelten Vorhängen?
Ich kannte manche, verloren
zwischen Wollen und Können,
Zurückkehren und Weitergehen,
zwischen Gesetz und geheim.
Haben Sie jemals illegal gewohnt
in der Grauzone erzwungener Stille,
bei Joghurt und ein paar Semmeln,
müde von Erstickungen jeglicher Art?
Ohne Klingel und Gegensprechanlage,
ohne Türschild mit ihrem Namen,
das WC gegenüber im Hof,
mit dem Gefühl, es hintergeht Sie jeder,
ohne warmes Wasser, wie auf einer Baustelle?
Angezeigt vom unbekannten Nachbarn,
der bemerkt hat, daß Sie im Geschäft übernachten,
was „der Hausverwaltung dezidiert nicht gefällt“.
Waren Sie jemals wütend auf klappernde
Absätze von Freundinnen?
Haben Sie ihnen die Hand auf den Mund gedrückt
aus Furcht, sie könnten zur falschen Zeit reden?
Gott bewahre sie, von Herzen zu lachen.
Haben Sie Tag und Nacht den ungestümen Neffen gezähmt,
die Fenster verriegelt
bei seinen Besuchen,
die Küchengerüche versperrend,
die Radiostimmen einschließend
vor den Nasen und Ohren der Nachbarn?
Haben Sie verkrampft, am Rande der Geduld
auf einen Brief gewartet?
Haben sie schon gelebt
mit einem Zuviel an Zigaretten, einem Zuwenig an Luft,
einem Zuviel an Büchern, einem Zuwenig an Lesern,
einem Zuviel an Schulden, einem Zuwenig an Einkünften,
einem Zuviel an Mitgefühl, einem Zuwenig an
Unempfindlichkeit,
einem Zuviel an Phantasie, einem Zuwenig an Aussichten?
Haben Sie schon mit einer Falle zwei Mäuse gefangen,
in einer Wohnung ohne Heizung gebetet,
daß das Wunder geschehen möge
und das Jahr ohne Winter vergehe?
Haben Sie jemals gelebt, als würde es Sie nicht geben,
als wären Sie ein Schatten,
fast ohne Stimme
hinter doppelten Vorhängen?
Die letzte Chrysantheme von Wien
Im letzten Jahrhundert gegossene Glocken
läuten zur Mahnung.
Die Wiener Kirche in Mitteleuropa
duldet und läutet, läutet und duldet.
„Sind da Massaker unten am Balkan
sogar an diesem heiligen Tag?“
— an dem der Krieg die Schlagzeile ist.
Wie es in Wien ist, ein Meer von Chrysanthemen.
Unbekannte werden die Blumen
auf die Gräber Bekannter legen,
Bekannte auf die Gräber Unbekannter.
Vermeinend, daß alles bedeckt sei,
sieht die Herbstzeit, grau, schläfrig,
ein anderes Zeichen vor über dem Grab:
das unberührte Laub von Birken und Trauerweiden.
Verstummt die Glocken
wie zuvor Pupin und Stan£ic,
Boskovié und Pantié,
Vuk Karadzié und Gaj,
wie KrleZa und Jova Zmaj.
Nur eine innere Mahnglocke
um die frischen Hügel
serbischer und kroatischer Soldaten.
Wer wird die Verbrecher des Krieges richten?
Kümmert irgendwen an diesem geiligen Tag
die letzte Mahnung,
die letzte Wiener Chrysantheme?
Ballade von Hari Mandel, dem Mann mit den
Goldfischen
Er scheint Bashevis Singers Geschichten entsprungen,
Mandel Hari, Hari Mandel,
Decknamen vielleicht des Mannes
mit den Goldfischen am Schlüsselanhänger.
Er starb leise, fast unbemerkt,
endete allein in einem mit Altwaren
vollgestopften Magazin: Einer der letzten
Juden Mitteleuropas, Überlebender
des Holocaust.
Gerettet hat sich Hari,
ehemals Buchhändler,
mit falschen Papieren,
schlotternd in Pest und Buda —
versteckt und beschiitzt durch Adonai, durch die Sterne?
Er seinerseits bewahrte hier in Wien
in seiner Geldtasche
die vergilbte Photographie einer Dame mit Hut
und den Bescheid über die Zollstrafe in Millionenhöhe
(in Schilling).