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Eine Brise, nach Plastik und Urin riechend, schlägt dem ent¬
gegen, der sich in die Gänge des Evangelischen Krankenhauses
in Wien verirrt. Ein Gründerzeithaus in ertaubtem Blau, fünf
Stockwerke, am Donaukanal. Im vierten Stock: die MS-Station.
Multiple Sklerose, zerbröselte Nerven, Zittern, Lähmung, per¬
manenter Schmerz aus Hilflosigkeit und voraussichtlich ir¬
gendwann ein starres Sterben. Kaum ein Mensch, der mit dem
Auto im Stau vor dem Gebäude steckt, weiß von dem, was sich
rund zwanzig Meter über seinem Kopf abspielt. Zwischen den
hellgrauen und weißen Schränken und Türen, an den hellblauen
Wänden, die irgendwie verstaubt wirken, blühen papierene, wie
von Kindern aufgeklebte kleine Orangen und weiße
Phantasieblumen mit blauen Stengeln, liegen zwölf MS-er¬
krankte Menschen. Man hört im vierten Stock — bis auf die Musik
aus dem Radio im Schwesternzimmer und unter Tags oft den
Lift und manchmal die gebellten Worte des Hauspersonals — vor¬
dergründig nichts. Alles scheint vorauseilend sterbend, schwä¬
chend, zitternd, lähmend, vorauseilend in warmen Betten lie¬
gend, tot. Doch bei ge¬
nauerem Hinhören
kann man das schwe¬
re Atmen aus dem
Dutzend Patienten¬
münder vernehmen,
wie es hinter der Mas¬
ke aus Windstille ver¬
sucht, einem Meer
gleich zu weinen.

Es ist kurz vor 19 Uhr,
der Arzt wird bald
kommen, wird bald
seine Abendrunde ma¬
chen. Der Kranken¬
pfleger Augustin Ndi¬
aye hat seinen Nacht¬
dienst gerade begon¬
nen und bereitet im
Schwesternzimmer die
Krankenberichte vor.
Er macht diese Arbeit
gewissenhaft und trägt
mit einer Schrift, die
durch ihre Sorgfalt je¬
den Arzt erstaunen
läßt, die notwendigen
Bemerkungen und Be¬
obachtungen dort ein,
wo sie hingehören.
Augustin Ndiaye hat
sich vor einigen Jah¬
ren, eigentlich erst vor
einem Jahr, in dieses
Schwesternzimmer am
Wiener Kanalufer ver¬
irrt. Er weiß eigentlich
nicht mehr genau, wie

es dazu gekommen ist. Er weiß nur noch eines und das läßt ihn
alles vergessen, sogar sein Heimweh nach St. Louis. Die Insel
St. Louis — mit ihrem wirren Zeitungsverkäufer, der mit seinen
wirbelnden grauen Haaren und seinem unverständlichen
Reklameschrei die gutaufgelegten Reichen aus Dakar anruft.
Diese sitzen dann auf den Terrassen der Restaurants und geben
diesen Stimmung und Fülle. Stimmung und Fülle, die nach ge¬
bratenem Fisch schmeckt und nach dem grauem Stein franzö¬
sischer Sklavenhändler und republikanischer Utopisten. Das al¬
les verblaßt.

Augustin Ndiaye weiß, daß alle Menschen, die er pflegt, un¬
heilbar krank sind, daß jede Mühe nur ein kompliziertes Hinaus¬
zögern einer in sich stürzenden Agonie ist, und daß die Leben
der im vierten Stock versammelten Menschen bald zwischen
Medikamenten und Schüben der Hoffnungslosigkeit verbleichen.
Das hatte er während seiner zweijährigen Ausbildung zum
Krankenpfleger gelernt. Niemand wird lachend und erleichtert
der Station entkommen, ob alt oder jung. Es sind auch schon
einige Male sehr junge
Menschen auf dieser
Station gelandet, sehr
junge Menschen...
Doch diesmal, Augu¬
stin hält kurz inne, die
Arbeit vergessend...
Der Arzt wird bald
kommen, die kleinen
Plastikschalen liegen
schon bereit, genauso
die Spritzen. Nur ein
Krankenbericht muß
noch ausgefüllt wer¬
den. Der Kugelschrei¬
ber erstarrt, die Kugel,
die Tinte erstarrt, ir¬
gendwo läutet ein
Wecker. Alle
Krankenberichte sind
ausgefüllt, nur einer
nicht, der Bericht über
sie nicht, der über Elsa
Ritter. Elsa Ritter. Sie
liegt auf Nr. 12 — auf
dem gelben Formular
mit den vorgedruckten
Kasten und Angaben,
das sich mit zuneh¬
mender Vernarbung
des Rückenmarks im¬
mer mehr mit Notizen
füllt, steht noch kaum
etwas — Geburtsdatum,
Wohnadresse, Namen
der Eltern, beide tot,
die Ergebnisse der er¬
sten Tests — Basisthe¬
rapie — drei Beta-Inter¬

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