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ferone, Glatirameracetat, Azathioprin und intravenös verab¬
reichte Immunglobuline. Elsa Ritter liegt seit vier Tagen in ei¬
nem Einzelzimmer, seit rund einer Woche weiß sie wohl
Bescheid. Sie ist 17, bald, irgendwann wird sie nicht mehr ge¬
hen können, bald, irgendwann wird sie zum Zittern anfangen,
bald, irgendwann hat sie schon längst damit angefangen. Sie sitzt
meist aufrecht in ihrem Bett und liest ein Buch, ein französi¬
sches Buch. Augustin Ndiaye kennt es, er staunt, daß sie es liest:
Le diable au corps — Den Teufel im Leib, von Raymond
Radiguet, dem jungen wilden Freund Jean Cocteaus, der in sein
Zimmer eingesperrt werden mußte, um sein Schreibtalent aus¬
toben zu können. Der mit 17 seinen ersten Roman geschrieben
hat, kurz danach seinen zweiten und dann gestorben ist, ganz
jung. Er soll sich in den Nächten aus seinem literarischen
Gefängnis geschlichen und der Soldatenwitwe Marthe einige
schöne Stunden geschenkt haben. Elsa lebt gerade auf Seite 78
und liegt dort in den Armen der schönen, rothaarigen Marthe,
sieht ihr Gesicht im Feuer und spielt mit den Flammen. Soll
draußen ruhig alles in Verdun vernarben und sterben, in den
Armen aus Feuer gibt es nichts, was wehtun könnte. Augustin
ist erstaunt, er kennt dieses Buch, er hat es in der Schule gele¬
sen. Er erzählt das Elsa, während er ihr den Plastikbecher voll
Wasser, die verschiedenen bunt flimmernden Pillen reicht und
ihre verlängerten Venen aus Plastik auf ihre Funktionstüchtigkeit
überprüft. Ihm ist aufgefallen, daß sie immer lächelt, wie eine
Buddhastatue, denkt er sich, auch jetzt lächelt sie — Vraiment?
— Wirklich? Ich lerne das für die Matura. Du lernst dieses Buch?
Augustin lacht, daß man ein Buch lernen muß, hat er sich nicht
gedacht. Nein, natürlich nicht lernen, ich meine lesen, ich le¬
se es für die Matura, die habe ich dann im Juni. — Verdrehte
Augen einer Ungeduld, Elsa hat es noch nie gefallen, wenn man
auf Worten herumreitet, auf diesen nebensächlichen Auswürfen
einer zu unterdrückenden Schüchternheit. Gefällt es dir? Was
magst du noch? Rimbaud... Rimbaud — die ausgebrannte Hölle
des ersten Abends.

Augustin schreibt die zu verabreichende Medikamentenmenge
auf das gelbe Blatt. Intravenös. Sie liegt an Schläuchen, bald
gelähmt, bald zitternd und lächelt — kein Jammern, keine un¬
zufriedenen Sekunden. Der Lift kommt, der Arzt kommt. Am
zweiten Abend will sie wissen, von wo er denn genau ist, und
als sie hört, von der Ile St. Louis bei Dakar, fragt sie ihn ganz
entzückt, ob er dort ein italienisches Restaurant namens „Chez
Rubin“ kennt, welches folglich einem gewissen Monsieur Rubin
gehört. Augustin kennt es wohl, verschlingt doch seine kleine
Schwester Alimata mit Vorliebe Rubins Spaghettis. Somit kennt
er auch sehr gut den älteren Herrn, der einmal in Europa, ge¬
nauer gesagt in der französischen Schule in Wien Mathema¬
tiklehrer gewesen sein soll. Monsieur Rubin kocht gerne Pasta
und geht gerne am Atlantik angeln, wo er immer die großen
Fische fängt. Dabei hat er Augustin auf die Idee gebracht, nach
Wien zu gehen, Krankenpfleger zu werden und so weiter... Ja,
genau, Mathematiklehrer. Mein Mathematiklehrer, mein Lieb¬
lingslehrer, als ich zwölf war. Diese gemeinsame Bekanntschaft
über Kontinente hinweg entzückt Elsa. Er schreibt mir immer
zu Weihnachten eine Karte, mit riesigen Fischen vorne drauf!
Die Welt ist klein und am dritten Abend küßt Elsa Augustin. Ganz
vorsichtig, unaufdringlich und etwas berauscht, gerade als er
ihr irgendetwas über sein Leben und über seine kleine Schwester
erzählen will... Und heute ist der vierte Abend, die vierte Nacht.
Was wird wohl heute passieren, überlegt sich Augustin etwas
nervös, was wird, bevor sie die Beruhigungstabletten einschlafen

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lassen, was wird heute passiert sein. Der Arzt steht da, hinter
ihm die Oberschwester — Ah! Heute haben wir wieder unseren
Freund mit der schönen Schrift! Nehmen Sie sich doch ein
Beispiel Schwester Ilona, Ihr Gekritzel kann ja kaum jemand
lesen! — süffisant blättert er sich durch die gelben Kranken¬
berichte, begutachtet die Spritzen, mit denen die Schwester auf¬
bricht. Die eine ist für Herrn Schwarz auf Nr. 4, die andere für
Frau Mayerhofer auf Nr. 6, die dritte für Frau Thalhammer auf
der Neun und die letzte für Frau Werth auf Nr. 13. — Gut, gut,
murmelt der Arzt, bevor er im Lift verschwindet. Er ist so jung
und doch schon so alt. Gute Nacht.

Augustin rollt mit seinem kleinen Wagen, voll gepackt mit
Plastikschalen und Plastikbechern, mit Wasserflaschen und vie¬
len Dutzend kleinen und großen Pillen, der Schwester nach, nach
elf Zimmern wird er wissen, was passiert sein wird. Die Schwe¬
ster wird dann auch im Lift verschwinden. Und Augustin wird
mit Elsa und allen anderen Kranken allein sein.

Elle est retrouvee.
Quoi? — L’Eternite
C’est la mer allée
Avec le soleil.

Die Wellen sind warm, der Sand heiß und irgendwo schwim¬
men die großen Fische, die Herr Rubin Sonntags fangen wird.
Elsa liegt schon seit einer Stunde wortlos, schlaflos und mit ge¬
schlossenen Augen auf der Zehe des Atlantik. Augustin schaut
sie an, er kann nicht anders. Seine Sonnenbrille, verdunkelnd
wie die Nachtschichten im Evangelischen Krankenhaus,
rutscht langsam die Nase herrunter. Elsa hat ihm heute Morgen
eine Torte vor diese, seine Nase geschoben, groß und mit viel
Schlagobers. Die 27 Kerzen haben der Sonne Konkurrenz zu
machen versucht. Zwei Kinder und eine ganze Torte für sich
alleine. T’es folle, vas! Wahnsinnige, so eine Torte hat es auf
St. Louis noch nie gegeben und noch nie haben so viele Kerzen
an einem Morgen gebrannt. Noch nie haben für Augustin Kerzen
gebrannt. Es ist wie die erste Sternschnuppe oder der erste
Schnee. Aus Filmen weiß er, daß er nun blasen muß, alle auf
einmal ausblasen muß. Er holt tief Luft und das geschmolze¬
ne Wachs, der verflüssigte Schlag und der schwarze Rauch mit
seinen Funken fliegt durch das helle Zimmer, et voila! Elsa ap¬
plaudiert, sie liebt es zu feiern, aus allen Ecken kriechen
Geschenke, eingepackt in weiße Phantasieblumen mit blauen
Stengeln und Orangen. Das Hellgrau und das Hellblau sind in
Wien geblieben, am Kanal, an den nun keiner denkt, der ver¬
schwunden ist, der dem pays de téranga, dem Land der Gast¬
freundschaft und der Feste, Platz machen muß. Elsa freut sich,
wie kindisch überrascht Augustin ein Paket nach dem anderen,
wie vorsichtig hastig er es öffnet, ohne die blauen Orangen zu
zerreißen, ohne die Papierblüten zu verlieren. In der Küche bra¬
ten die Fische der Mutter und Herr Rubin rollt schon seit 14
Minuten den Nudelteig für eine Pasta, welche er rollenderweise
Elsa l’amoureuse nennen will. Und das Gelb der 29 Eidotter für
den Teig macht der Sonne auch Konkurrenz. Zahlen schwirren
durch Monsieur Rubins Kopf, doch ganz unordentlich und wirr,
nur ein Gödel hätte den Zusammenhang mit den werdenden
Teigtaschen begreifen können. Doch solche Berechnungen behält
der ehemalige Mathematiker lieber für sich, genauso wie die
Erkenntnis, daß ihnen zufolge sein Essen gar nicht existieren
dürfte. Der Dezember ist warm, erschöpft liegt Elsa am Strand,
halb verweht von den Beruhigungstabletten und Antidepressiva,
die prophylaktisch gegen die Realität verschrieben werden. Sie