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Stellen Sie sich vor, Sie kämen in eine Buchhandlung und fänden auf dem Regal mit den Neuerscheinungen zwei Romane mit ähnlichen Titeln und Klappentexten. Der wesentliche Unterschied bestünde darin, dass die Handlung des einen Romans in New York und die des anderen in Bratislava angesiedelt wäre. Was glauben Sie, welches Buch sich besser verkauft? Sie ahnen es schon? Jeder verbindet etwas mit New York, aber wer interessiert sich schon für Bratislava? Der gebildete Durchschnittswesteuropäer mittleren Alters hat in seinem Leben mehr amerikanische Bücher gelesen als aus allen neuen EU-Beitrittsländern samt den Ländern des Balkans und GUS zusammen genommen. Wer dies bezweifelt, prüfe doch sein eigenes Leseverhalten oder frage in seinem Freundes- und Bekanntenkreis nach. Was für die Literatur gilt, ist für andere Kulturbereiche in noch größerem Maße zutreffend. Kennen Sie einen bulgarischen Song in den Hit-Charts? Oder ein begehrtes Markenprodukt „Made in Poland‘? Und ein lettischer Road-Movie lockt ein paar Cineasten, aber bestimmt nicht die Massen in die Kinosäle. Die angelsächsische „Leitkultur“ prägt immer noch unser Denken und Verhalten. Daran haben weder der 11. September 2001 noch der Irak-Krieg etwas geändert. Die Gründe dafür allein in der US-Dominanz der Kultur- und Medienindustrie oder in der politischen und ökonomischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu suchen, wäre gewiss zu simpel. Fest steht jedenfalls, dass es ein bestimmtes Lebensgefühl, ein komplexes System von Werten, Vorstellungen und historischen Erfahrungen, gibt, das die Menschen in New York, Paris, Stockholm, Sydney, Zürich oder Wien verbindet. Dieser kulturelle Großraum bietet, trotz seiner Vielfalt, genug Identifikationsmöglichkeiten. Das Fremde wird als Facette und nicht als etwas völlig anderes, dem eigenen Wesen Entgegengesetztes, erlebt. Sofia, Warschau oder Moskau liegen in der Vorstellung der meisten Westeuropäer immer noch außerhalb dieses Großraums. Dies jedoch ist noch keine hinreichende Erklärung dafür, weshalb ein slowakischer oder ukrainischer Roman vergleichsweise weniger Leser ansprechen würde als ein amerikanischer, deutscher oder schwedischer. Viele Menschen suchen ja gerade das Fremde jenseits von Variationen bekannter Muster und wollen Authentizität statt inszenierter Exotik. Wer in Salzburg, der Stadt, in der ich lebe, der Tristesse des österreichischen Provinzalltags entfliehen möchte und sich als „alternativ“ versteht, fliegt dreimal im Jahr nach Havanna, besucht einen Trommelkurs in Senegal, macht eine Motorradtour durch Thailand, studiert Völkerkunde und Spanisch oder begeistert sich für den Gesang buddhistischer Mönche. Doch eine Reise nach Sarajevo macht kaum jemand, und eine Tätigkeit als Entwicklungshelfer in Bolivien reizt mehr als die Mitarbeit an einem Sozialprojekt in der Ostslowakei. Das Interesse an unseren östlichen Nachbarn ist natürlich nicht so gering, dass deren Kultur nur marginal wahrgenommen würde. Neben einigen Musikern und bildenden Künstlern gibt es eine Reihe von Schriftstellern, die sich im Westen einen Namen gemacht haben. Das Leseverhalten einer Minderheit sorgt in Einzelfällen für gute Verkaufszahlen der Bücher von Viktor Pelewin, Imre Kertész oder Aleksandr Ti$ma, aber es ist nicht repräsentativ für den literarischen Geschmack der Mehrheit. 50 Vor einem Jahr lernte ich in Deutschland einen russischen Autor kennen. Bei einem Abendessen nach einer gemeinsamen Lesung machte er einige ironische Bemerkungen darüber, was er „die Naivität der Westeuropäer, insbesondere der Deutschen“ nannte. In der EU-Osterweiterung meinte er eine „Fehlentwicklung“ zu erkennen, weil sie nicht auf ökonomischen Sachzwängen, sondern auf „ideologischen Grundsätzen“ beruhe. Mit den neuen Beitrittsländern würde eine bislang unbekannte Dimension von Verschlagenheit, Brutalität und Chauvinismus in die europäische Politik Einzug halten. Ich widersprach und verwies auf die Schattenseiten Westeuropas: die neue Armut und den Sozialabbau, die Ausländerfeindlichkeit und Abschottung nach Außen, den Rechtspopulismus und die Aufweichung demokratischer Strukturen. Doch mein Gesprächspartner lachte mich aus. Schließlich kam er aus einem Land, dessen Armee gerade in Tschetschenien einen Vernichtungskrieg führte und dessen Einwohner zu Tausenden an Tuberkulose starben, einer Krankheit, die noch vor wenigen Jahren als besiegt galt. „Die Schattenseite Westeuropas sind wir“, sagte er. „Die Osteuropaer.“ Ich teilte den Zynismus meines Kollegen nicht. Seinem letzten Satz konnte ich allerdings vieles abgewinnen. Ich dachte an einen älteren Mann, der mir vor ein paar Jahren von seiner Reise nach Rumänien erzählt hatte. Im schmutzigen, verrauchten Zug zwischen Temesvar und Bukarest sei er auf frappierende Weise an seine eigene Kindheit in Nachkriegsdeutschland erinnert worden. Während das Ungeziefer über seine Knie gekrabbelt sei, habe er sich ins Jahr 1946 zurückversetzt gefühlt. Sogar die Landschaft und das Aussehen der Bahnhöfe und Dörfer haben sich kaum von „damals“ unterschieden. Diesen Wiedererkennungseffekt haben viele und müssen sich ne literarische Reise. Dies mag für einige reizvoll und wichtig sein. Andere wenden sich irritiert ab, zumal das Vertraute sich keineswegs nur auf eine fernere Vergangenheit bezieht. Die Roma aus Rumänien und der Slowakei, die in den Straßen österreichischer Städte betteln, erlebt man als unangenehm und nicht als exotisch. Ihre Armut wird als schäbig und selbstverschuldet angesehen. Sie greifen zu sehr in den Alltag ein, als dass man sich eingehender mit ihren Lebensumständen, ihrer Kultur und Geschichte auseinandersetzt. Die Beschäftigung mit den Leiden des tibetischen Volkes ist ungleich spannender: das hat scheinbar nichts mit einem selbst zu tun. Vor 1989 war das anders. Aus heutiger Sicht mag das kurios erscheinen, aber damals war man viel eher bereit, die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang als seinesgleichen anzusehen. Aufgrund der gemeinsamen europäischen Geschichte, die mit der Teilung des Kontinents einen ihrer tragischen Tiefpunkte erreicht hatte, fühlte man sich ihnen schicksalsverbunden. In der Betroffenheit, die beispielsweise Solschenizyns Bücher bei ihren westlichen Lesern auslösten, mischte sich bei vielen das Gefühl der Erleichterung, selbst „davongekommen“ zu sein, mit dem schlechten Gewissen über die eigene Verstrickung in die totalitären Regime der noch nicht allzu weit zurückliegenden faschistischen Epoche. Die Welt „drüben“ war nah und doch unerreichbar, sauber geteilt in Unterdrücker und Unterdrückte, auf die man leicht die eigenen „guten“ Gefühle von Freiheits