OCR
Ecevit Ari Nazim Hikmet Ran Mein Herz schlägt im Gleichtakt mit dem entferntesten Stern Für Adrienne Milassin Als der angesehene Gouverneur von Aleppo, Mehmet Nazim Pasa, der als Anhänger des von dem Mystiker und Dichter Mevlana („Unser Herr“) Celaleddin Rumi gegründeten Mevlanaordens selbst ein mürid, Liebender, Sufi, Mystiker und Dichter war, sich wieder einmal mit anderen Ordensbrüdern und gleichgesinnten Freunden im Garten seines Hauses traf, um in klangvoll-rhythmischen aruzVersen die mystische Liebe zu besingen, spielte sein Enkel Näzım Hikmet Ball. Während er den Ball aus einer Gartenhecke herauszuholen versuchte, bemerkte er, daß einer von den Gästen ein Gedicht aus einem literarischen Blatt vortrug, welches mit Mehmet Näzım gezeichnet war, und dem Gastgeber als den vermeintlichen Urheber des Gedichts huldigte. Mehmet Näzım Pasa betonte zwar, daß das Gedicht nicht von ihm stamme, doch vermutete man dahinter bloß falsche Bescheidenheit, bis zwischen Lavendeln und Rosen der unbeachtete Enkel wie eine Säule aus Stein aufstand und das Ende des Gedichts coram publico rezitierte. Auch mein Name ist Mehmet Näzım, während ich hier im Garten spiele, höre ich Ihren Reden aufmerksam zu, ich schreibe auch Gedichte zu Ehren Mevlanas, ich habe dieses Gedicht und noch andere verfaßt und an die Zeitschrift Dergah geschickt, damit es gedruckt werde, soll der ballspielende Näzım gesagt haben mit einem aus Verlegenheit etwas erröteten Gesicht, und es werden noch weitere von meinen Gedichten gedruckt werden, und es werden Bücher von mir erscheinen. Anschließend soll das sichtlich mit Genugtuung und Stolz erfüllte Kind ein Stück Papier und einen Bleistift aus seiner Hosentasche geholt und weitere, neue Verse in freien Rhythmen vorgelesen haben, welche die Ausweglosigkeit des menschlichen Schicksals im mystischen Bild des sich mit dem Miihlstein im Kreise drehenden Ochsen allegorisieren: ... döneriz hep döneriz./ Aynı yerde baslarız, aynı yerde söneriz/ Deriz ki ilerledik, aynı yoldur gecilen,/ Bu ebedi zulmette bir seraptır segilen ... Nachdem die Mevlana-Derwische gebannt diesem Kind gelauscht hatten, sollen sie in Trauben um die /nkarnation des Meisters selbst gestanden sein, um die Kinderhand des Erleuchteten zu küssen. Es ist kaum anzunehmen, daß einer dieser Herren in jenem Garten, und am wenigsten der Großvater selbst, sich selbst in seinen kühnsten Vorstellungen ausgemalt hätte, daß einst japanische Fischerfrauen die Gedichte dieses Kindes als Flugblatt gegen die Wiederaufrüstung drucken, afro-amerikanische Bürgerrechtskämpfer bei Demonstrationen sein überlebensgroßes Portrait tragen, französische Arbeiter ihm Dankesbriefe schreiben, junge Menschen seine Gedichte als Liebesbriefe schicken und nach seinem Tod in Moskau Menschen stumm in langen Reihen vor den Zeitungskiosken anstehen würden, um seine letzten Worte und die Nachrufe zu lesen, die letzte Photographie von ihm zu sehen, seinen offenen Blick...' Keiner dieser Herren hätte sich träumen lassen, daß diese Gedichte einmal in 50 Sprachen übersetzt, aber in seiner eigenen Muttersprache, in seinem Heimatland, der Türkei, verboten sein würden. (Verboten war sogar, Näzım Hikmet beim Namen zu erwähnen.) Näzım Hikmet, der nach der Einführung der Nachnamen im Jahre 1925 noch den Namen Ran annahm, spiegelt gewissermaßen in seinem Leben und Werk die Entwicklung der türkischen Republik vom Fall des osmanischen Reiches bis in die Moderne wider. Kein anderer türkischer Dichter reflektiert auf ebenso eindrucks- wie widerspruchsvolle Weise gerade in der Kontinuität seines Schaffens die Wandlung von der Manieriertheit klassisch-altosmanischer arabisch-persischer Diwanlyrik zur modernen Flexibilität freier Rhythmik, von einem zur Atemlosigkeit eng geschnürten Korsett aus metrischer Norm und Form zur revolutionären Verwendung von Umgangssprache in freiem, silbenzählendem Versmaß Majakovskijs, von der Verwendung arabischer Schriftzeichen zum lateinischen Alphabet, von der religiösmystischen und nationalepisch-antiimperialistischen Dichtung zum poetischen, sozialistischen Realismus und Konstruktivismus, vom Volksdichter, dem man sein Volk und seine Heimat gestohlen hatte, zum Dichter zwischen den Welten, jazum Weltdichter. Was der Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal, zunächst militärisch durch einen antiimperialistischen Verteidigungs- und Befreiungskrieg, dann politisch durch die Abschaffung von Sultanat und Kalifat, durch Laizismus, Republikanismus und Etatismus, später kulturell durch Revolutionarismus, mit einer permanenten, reformatorischen Tätigkeit in zivilisatorischem Kontext, ermöglicht hat, eben diese Idee der permanenten Revolution hat Näzım Hikmet, der türkische Dichter des Volkes, für die von den Fesseln der Osmanen befreite Sprache bewirkt und bedeutet. Dem befreiten Volk eine befreite Sprache! So wie die Emanzipation des türkischen Volkes mit dem Namen Mustafa Kemal Atatürk ist die Emanzipation der türkischen Sprache mit dem Namen Näzım Hikmet verbunden. Und es scheint kein Zufall, daß die Lebenswege dieser beiden Menschen ihren Ausgangspunkt in derselben kosmopolitischen, griechisch-osmanischen Hafenstadt, nämlich Saloniki, nahmen. Was für schöne Städte hat mein Anatolien an seiner Mittelmeerkiiste. Klein sind sie, wie eine Orange mit Sonne beladen wie ein dicker Fisch glänzen sie und voll Farbe wie Rosenlorbeer. (Aus: Menschenlandschaften) Man könnte meinen, Näzım Hikmet sei der Kosmopolitismus in gewisser Weise in die Wiege gelegt worden. Da ist einmal die Familie des Vaters Hikmet Näzım Bey (1876 — 1932). Dessen Eltern, Samiye Hanım und der bereits erwähnte Mehmet Näzım Pasa (1844 — 1926) stammten aus Istanbul. Politisch ließe sich der Großvater, ein Dichter und Mystiker, als gemäßigter Konservativer beschreiben, da er für eine konstitutionelle Monarchie plädierte, was ihm, der ein seltsames, aber nicht unübliches Doppelleben als Dichter und Staatsdiener führte, wahrscheinlich den Posten als Gouverneur von Aleppo nahe der syrischen Wüste eintrug. Die Mutter Näzım Hikmets, Celile Hanım (geb. 1879), trägt viel an Couleur zur Fami Celile Hanım, die Mutter Näzım Hikmets 55