OCR
liengeschichte bei. Ihre Großmütter waren beide — so wird vermutet — Tscherkessinnen. So war ihr Großvater, also der Urgroßvater Näzım Hikmets, ein gewisser Konstantin Borzanski oder Borzenski, Sohn polnischer Adeliger, ein anerkannter Turkologe, topographischer Zeichner und Militäringenieur, ein Revolutionär von 1848 und Kämpfer für die nationale Unabhängigkeit Polens zwischen Paris, Berlin und Warschau. Über ihn berichtet der Lyriker Va-Nu, ein Weggefährte und Freund Näzıms von Kindertagen an, daß er Angehöriger der Gagausen, einer türkischchristlichen Minderheit auf dem Balkan und in Bessarabien, gewesen sein soll. Auf jeden Fall kam Konstantin Borzänski in russische Gefangenschaft. Auf dem Weg nach Sibirien gelang ihm auf spektakuläre Weise die Flucht in die Türkei. Er trat zum Islam über und hieß fortan Mustafa Celalettin, machte eine Karriere als Sprachforscher und wurde mit dem Ehrentitel eines Pasa gewürdigt. In einem 1954 verfaßten Gedicht, das Näzım seiner Frau Miünevver Andag widmete, der Mutter seines Sohnes Mehmet, den er kurz nach seiner Geburt verlassen mußte, als er ins Exil nach Moskau ging, und dann nur mehr auf Photographien wachsen sah, nimmt er Bezug auf seinen polnischen Urgroßvater: Meine Liebe, meine Cousine, Mutter meines Mehmet,/ einer unserer Großväter ist/ ein Emigrant aus Polen von 1848./ Vielleicht kommt daher deine Ähnlichkeit mit jener schönen Warschauerin,/ [...] vielleicht habe ich deshalb einen so blonden Schnurrbart,/ bin so groß,/ sind darum die Augen unseres Sohnes so nordisch blau./ [...] Meine Liebe,/ wo und wann immer man auch für die Freiheit kämpfte,/ war da nicht an vorderster Front ein Pole dabei? [...] Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß Näzım Hikmet später, als die Rückkehr endgültig aussichtslos geworden war, die polnische Staatsbürgerschaft annahm. Mehmet und Münevver Andag, die seit 1950 Näzım Hikmets Arbeiten ins Französische übersetzte und von der DDR aus seit 1960 als seine Literaturagentin fungierte, erhielten 1960 polnische Papiere und emigrierten ein Jahr später nach Warschau. Hikmets Sohn hieß nun Mehmet Hikmet-Borzanski. Die Flucht von Münevver wurde übrigens durch die Übersetzerin von Hikmets Gedichten ins Italienische organisiert. Sie hatte einen Parlamentsabgeordneten, Millionär und Yachtbesitzer bewogen, etwas zu tun, das ihm eine Erwähnung als Wohltäter in den Annalen der Literaturgeschichte einbrächte. Der Yachtbesitzer fährt also tatsächlich an die türkische Riviera, geht irgendwo an der Ägäis zwischen Kusadasi und Mugla vor Anker, läßt täglich Hunderten neugierigen Einheimischen seine luxuriöse Yacht zeigen. Unter diesen Besuchern befindet sich „zufällig“ auch einmal Münevver Andag und ihr Kind. Sie verlassen die Yacht erst in einem sicheren Hafen in Griechenland, von wo sie nach Warschau weiterreisen. So kam das letzte Zusammentreffen 56 zwischen Näzım und Münevver zustande. Da aber Näzım Hikmet inzwischen mit der russischen Dramaturgin und Schauspielerin Vera Tuljakova zusammenlebte (welche am 19. März 2001 von uns schied), kehrte er nach Moskau zurück. Münevver Andag war die zweite Tochter aus der Ehe zwischen Gabrielle Taron und Mustafa Bey, dem Bruder von Näzıms Mutter Celile Hanım. Mustafa Bey war in der vorrepublikanischen Ara als Kulturattaché des türkischen Konsulats in Sophia tätig. Einer seiner dortigen Freunde und Arbeitskollegen war der spätere Gründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal. Als Münevvers Vater dann sehr jung starb, verlieh ihm Mustafa Kemal persönlich den Nachnamen Andag, was Memento bedeutet. Aus der Ehe von Konstantin Borzänski und Saffet Hanım ging Enver Celalettin Pasa hervor, der Vater von Celile Hanım, ein General, Historiker von Ruf und Lehrer an der Istanbuler Militärakademie. Einer seiner besten Schüler hieß Mustafa Kemal. Doch auch mütterlicherseits liest sich die Ahnenreihe von Näzıms Mutter Celile Hanım als eine illustre Familiengeschichte: Ihr Großvater Mehmet Ali Pasa, alias Karl Detroit, war der Sohn einer nach Preußen ausgewanderten hugenottischen Familie. Er wurde 1827 in Brandenburg a.d. Havel als Sohn eines Musiklehrers geboren, besuchte das Magdeburger Domgymnasium, wurde wegen „häuslicher Unordnung“ in ein Waisenhaus der französisch reformierten Gemeinde gesteckt, brach eine Kaufmannslehre ab, heuerte als Schiffsjunge an und schwamm 1839 auf abenteuerliche Weise heimlich von einem Hamburger Dreimaster im Bosporus an Land. Der Zufall wollte es, daß er triefend naß im Park des Anwesens Ali Pasas, des Außenministers des Osmanischen Reiches, strandete. Nach einer Adoption, Ausbildung und Konversion zum Islam nahm er als Leutnant Mehmet Ali 1854-56 am Krimkrieg, als Generalmajor 1867 an der Niederschlagung des Kretaaufstandes teil und versah später Ämter wie die des Marschalls und Kommandeurs von Istanbul. Er nahm auch als Vertreter der „Hohen Pforte“ 1878 am Berliner Kongress teil, was ihm, zu Zugeständnissen gezwungen, zum Verhängnis wurde, da ihn eine aufgewiegelte Meute von albanischen Muselmanen als den Verräter ihrer Interessen an das christliche Abendland gelyncht haben soll. (So Va-Nu in seinen Erinnerungen an Nazim Hikmet bu dünyadan Näzım gecti). Von ihm wird weiter berichtet, daß er eine certaine culture philosophique et litteraire besessen habe und Verfasser von Gedichten in deutscher, griechischer, französischer, persischer und arabischer Sprache gewesen sei. Seine Tochter Leyla Hanım, die Großmutter Näzım Hikmets, wurde die Frau Enver Celalettins. Aus dieser Ehe ging neben Celile Hanım und Sara Hanım, die sich beide der Malerei zuwandten, noch ein Sohn, Mehmet Ali, hervor, Ingenieur, Maler und Dichter, der in den Balkankriegen kämpfte und schließlich in der Schlacht an den Dardanellen sein Leben lassen mußte. Ihn verehrte Näzım besonders, und über ihn schrieb er noch als Adoleszent das Gedicht A mon oncle/ Tu n’es pas mort/ Tu n’es pas mort/ Tu vis encore/ Tu vivras toujours/ Dans le coeur de ta patrie. Sara Hanım, die Tante Näzım Hikmets mütterlicherseits, war mit dem Dichter, Sprachwissenschafter und Gouverneur Samih Rifat, der auch Ämter im Türkischen Erziehungsministerium und in der nationalen Sprachinstitution Türk Dil Kurumu innehatte, vermählt. Ihr Sohn Oktay Rifat, Advokat und Dichter, gehörte der surrealistischen Garip Gruppe um die legendären Orhan Veli Kanık und Melih Cevdet Anday an. Näzım Hikmets Vater Hikmet Näzım Bey besuchte das französischsprachige GalatasarayLyzeum, in dem ein aufgeklärter Geist herrschte, arbeitete später im Außenministerium, diente eine Zeit lang als Konsul in Hamburg, mußte unter dem Druck von Gehaltskürzungen, von denen die gesamte osmanische Bürokratie betroffen schien, mit Frau und Kind nach Aleppo ziehen, wo sein Vater als Gouverneur lebte. Später erhielt Hikmet Näzım Bey von der neuen jungtürkischen Regierung den Direktorenposten für das staatliche Druckereiwesen in Istanbul zugesprochen, ließ die Familie aber — ein zweiter Sohn namens Ali Ibrahim fiel einer Diarrhoe zum Opfer, und 1908 wurde Näzıms Schwester Samiye geboren — in Aleppo zurück und unterstützte sie fortan kaum mehr. Es gilt als erwiesen, daß dieser Herr ein sehr unstetes Leben führte und seinen väterlichen und ehelichen Pflichten nicht nachkam. 1918 erfolgte die Scheidung. Zu dem etwas skurrilen weiteren Weg Hikmet Näzım Beys muß erwähnt werden, daß er Mitbegründer einer der ersten modernen Molkereien Istanbuls wurde (finanziell übervorteilt, um nicht zu sagen, gemolken, ging er endgültig Bankrott), dann als Redakteur einer Zeitung, später als Herausgeber einer Kinozeitschrift arbeitete und schließlich das Süreyya Pasa Sineması, ein Kino im Stadtteil Kadıköy, leitete. 1932 wurde er von einem in Istanbul herumstreunenden Hund gebissen, glaubte, von Tollwut angesteckt worden zu sein, und ließ sich gegen Tollwut impfen. Am selben Tag geriet er unter ein Auto und erhielt im selben Krankenhaus, wo er gegen Tollwut geimpft worden war, eine Tetanusspritze, die zu hohem Fieber und schließlich Herzversagen führte. Während ihn der Mitbesitzer seines Kinos noch bedrängt, Schriftstücke zu unterschreiben, die gewisse Beteiligungen am Vermögen regeln sollen, stirbt Näzım Hikmets Vater im Beisein seines Sohnes. Dieses rücksichtslose Vorgehen aus dem Kalkül des Kapitaleigners heraus hinterließ in Näzım Hikmet, der mit seiner Schwester Samiye um den Vater trauerte und ihm die Augenlider zudrückte, einen nachhaltigen Eindruck. Als Näzıms Mutter Celile Hanım, eine