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einem Fischerboot ins Schwarze Meer hinaus, mit dem Ziel, an die bulgarische Küste zu gelangen. Das Boot wird von dem entfernten Verwandten Refik Erduran gesteuert. Auf dem Meer begegnen sie einem rumänischen Frachter, dessen Besatzung Näzım Hikmet nach langem Zögern aufnimmt. Über das Zusammentreffen überrascht und erfreut, zeigen ihm die Matrosen ein Bild von ihm aus der Zeitung, das in ihrer Kajüte hängt. Von Bukarest fliegt der Dichter am 29. Juli 1951 nach Moskau, wo er wie ein Held empfangen wird. Man bietet ihm ein Haus im Vorort Peredelkino und ein Auto mit Chauffeur an. Auf letzteres verzichtet er. Zu seinen Nachbarn zählen Boris Pasternak, zu seinen Freunden gehören Ilja Ehrenburg, Dmitrij Schostakowitsch, Sergej Alexandrowitsch Jessenin und Konstantin Simonow. Acht Tage nach seiner spektakulären, lange vorbereiteten Flucht aus der Türkei wird ihm durch Beschluß des türkischen Ministerrats die Staatsbiirgerschaft aberkannt. Seine Rehabilitierung läßt indes bis in unsere Tage auf sich warten. Münevver Andac und Sohn Mehmet werden beschattet und dürfen nicht ausreisen. Sogar das Spielzeug, das der Vater dem kleinen Sohn aus der Sowjetunion schickt, wird an den Absender zurückgesendet. Im Oktober 1952 erleidet er während eines Aufenthalts in Peking einen Herzinfarkt. Das Herz des Riesen droht zu bersten. Aus der bulgarischen Schwarzmeerhafenstadt Varna blickt er am 29. Mai 1957 noch einmal hiniiber in seine Heimat, zu Memet. In mir ruht wie der Duft einer roten Moschusrose die Zeit. Aber daß es heute Freitag, morgen Samstag ist, daß viel von mir verloren, wenig geblieben ist, kümmert mich nicht. (An Vera, 15.1. 1960, Kislovodovsk) 1959 heiratet er die um dreißig Jahre jüngere Vera Tuljakova. Eine rege Reisetätigkeit führt ihn nach Berlin, Leipzig, Leningrad, Warschau, Prag, Havanna, Paris, in die Schweiz, nach Schweden, Italien, Afrika, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Südrußland. Diese Rastlosigkeit zieht eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes nach sich. Bei einer Friedenstagung in Stockholm läßt er sich von einem Mitglied der russischen Delegation helfen. Wieder zurück in Moskau, bedankt er sich bei dem Herrn, erhält eine Visitenkarte und bemerkt erst jetzt, daß es sich um Dmitrij Schostakowitsch handelt, dessen Siebente Symphonie er 1941 in seiner Zelle im Gefängnis von Bursa gehört hat. 1963 beendet er seinen autobiographischen Roman Die Romantiker und stirbt am Morgen des 3. Juni in seinem Haus bei Moskau an einem weiteren Herzinfarkt. Als er die Zeitung in der Entrée holen möchte, sinkt der blauäugige Riese mit der großen Seele des rastlosen Meeres in sich zusammen. Am 10. September 1961 schrieb er in Leipzig, den nahen Tod ahnend: Die Reihe ist an mir/ plötzlich werde ich in die Leere springen/ weder von meinem faulenden Fleisch werde ich Kunde haben/ noch von den in meinen Augenhöhlen krabbelnden Käfern// pausenlos denke ich an den Tod/ meine Reihe ist wohl nahe. Der vielleicht größte türkische Dichter, der auf einem Dorffriedhof zu Hause beerdigt werden wollte und bloß eine Platane über seinem Grab, keinen Grabstein und keine Inschrift wünschte, wurde auf dem NowodewitschiFriedhof in Moskau beigesetzt. Noch im Todesjahr schrieb Hikmet diese Zeilen an seine Frau Vera: Komm doch, sagte sie/ Bleib doch, sagte sie/ Lach doch, sagte sie/ Stirb doch, sagte sie// Ich kam/ Ich blieb/ Ich lachte/ Ich starb ... Es wäre anmaßend und vermessen zu fragen, worin die eigentliche Bedeutung Näzım Hikmets für die Erneuerung der türkischen Literatur und Sprache liegt, denn er hat keine Entwicklung in die Moderne weitergeführt, sondern er hat sie geschaffen. Auch darin, im bedingungslosen Bruch mit Tradition und Konvention, liegt das Revolutionäre seiner Lyrik. Näzım Hikmet war kein Fluß, er war das Meer. Nur so läßt sich sein Gesamtwerk interpretieren. Viele gossen ihr Tintenfaß über das Werk Näzım Hikmets, um den vielfältigen Interpretationen zusätzliche Valeurs hinzuzufügen. Unumstritten ist, daß die Dichtung Näzım Hikmets eine Implosion all der überkommenen Axiome syntaktischer, semantischer und formalästhetischer Strukturen bedeutete, und daß sie das auf die ruhmreichen tempi passati rekurrierende Selbstverständnis der osmanischen Zivilisation partout auflöste. Er war der erste und radikalste Verfechter einer neuen Sprache. Die wahren Helden des Befreiungskrieges, das Volk, die Bauern, die einfachen Menschen Anatoliens erhielten durch Hikmet ihre Menschenwürde zurück. Das Werk Näzım Hikmets ist weder einzuordnen noch einzuengen. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, daß er ein Konstruktivist, Futurist, Dadaist, Subjektivist, Kemalist, Nationalist, Kosmopolit, romantischer Kommunist, sozialistischer Realist genannt wurde, und alle mit all dem Recht hatten. Vor allem aber war Näzım Hikmet ein Liebender, der Menschen. Hikmets Sprache ist Protest gegen jegliche poesie pure. Sucht man nach Vergleichbarem, so stößt man auf die vitalen Hymniker anderer „unterentwickelter Länder“: Pablo Neruda, Gabriela Mistral, Nicolas Guillen. Aber in Frankreich, wo Tristan Tzara und Louis Aragon den Türken vorstellten und feierten, verglich man seine kühne Metaphorik mit der Eluards, Albertis und Lorcas, und amerikanische Beatniks sahen in Hikmets Werk gar die formalen Errungenschaften der Hart Crane, E.E. Cummings und Huidobro vorweggenommen.> Keiner hat einem ganzen Volk ein so lebendiges Denkmal gesetzt wie er in den Menschenlandschaften. In assoziativen Bildern, Collagen, Assemblagen, durch die Montage verschiedener Jargons, wissenschaftlicher Fachausdriicke, nautischer Termini, durch das Auftreten von Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Klassen, durch phantastisch anmutende Szenen aus den Tiefen des Bosporus, wo der tote britische und deutsche Soldat noch ein letztes Mal zum Autor, zur Welt sprechen, durch die penible und pointierte Portraitierung von Menschen, durch Prototypisierung, durch das Einfangen von Stimmungen in komplex-verdichteten, deshalb einfach zu lesenden Versen in freien Rhythmen, durch all dies bietet er dem Leser höchste Anschaulichkeit, der Dichter scheint einen Dogma-Video-8-Film abzuspulen vor den Augen des Lesers. Die einzelnen Kapitel werden von Sätzen mit unvergleichlicher poetischer Sprengkraft eingeleitet. Man holt noch einmal tief Luft, um dann unterzutauchen in die tiefen Gründe eines menschlichen, landschaftlichen und dichterischen Panoramas. Da ist es im Bahnhof zu Haydarpasa im Frühling des Jahres 1941 zehn Uhr fünf. Auf den Treppen die Sonne, die Müdigkeit und die Eile. An einer anderen Stelle heißt es, daß mit der schöner als Rosen duftenden Arnavutköy Marmalade und mit dem in Weinblätter gewickelten Barbunya-Grillspieß der Frühling ins Buffet des Bahnhofs zu Haydarpasa kommt. Oder wieder an einer anderen Stelle ist die Erde so weit das Auge reicht ganz eben, völlig nackt und scharf wie roter Pfeffer. Im Westen eine einzige, lange Pappel. Im Zug reist der Leser mit dem Dichter vom asiatischen Kopfbahnhof Haydarpasa nach Ankara, er lernt dort, im Zug, wo alle Klassen aufeinanderprallen, die Menschen des Landes kennen, seine Arbeiter, Bauern, Kriegsgewinnler, Parvenüs, Großgrundbesitzer, die wenigen Fabrikanten, die als selbst Bedrängte dargestellt werden. Man sieht, wie ein idealistischer kemalistischer Bürokrat Schritt für Schritt korrumpiert wird, und das um den Preis eines Bordellbesuchs. Man sieht einen alternden Arzt in einem Krankenhaus, der ein letztes Mal mit der Krankenschwester schläft und sich anschließend umbringt. In dem Moment, in dem man die Nachricht vom Tod des Arztes erhält, blickt man mit den Augen eines anatolischen Bauern durch die halboffene Tür eines Kreißsaales auf das sich kurz vor der Geburt öffnende Geschlecht einer Frau, und man hört den schönsten Schrei auf dieser Erde, den ersten Schrei, das erste Siegeslied des Neugeborenen. Auf diese metempsychotisch bis eigentümlich mystisch anmutende Allegorie auf ein ewiges Vergehen und Entstehen, auf die Opferung des Alten für die Geburt des Neuen, ist aller Avantgardismus Näzım Hikmets für einen Moment reduziert. Irgendwo trifft man auch auf jenen ein Dutzend Radioapparate besitzenden Radiomanen, der wahrscheinlich im Gefängnis zu Bursa Radioapparate repariert hat, der allein durch diese Leidenschaft sechs Sprachen beherr61