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schen gelernt hat, und durch den Nazim Hikmet jene während der Belagerung Leningrads komponierte Symphonie von Schostakowitsch gehört haben mag. Als ein Truthahn an den zahlreichen Antennen am Dach hängen bleibt und sich verletzt, rettet ihn der Radiomane aus den Fängen der Drähte, verarztet das arme Tier, um dann den neuen Gast zu bewirten und mit ihm über die Stimmen der Welt, die aus den Kästen kommen, zu plaudern, und darüber, daß sie alle Musik spielen und sich zugleich bekriegen, und daß es ein sonderbarer Genuß sei, auf Spanisch, in der Sprache der Dolores Ibarruri Passionaria, verflucht zu werden. Wie war es in einem Gefängnis möglich, mit so viel Liebe zu den Menschen, mit solcher Unbefangenheit, (Selbst)-Ironie und ohne Bitterkeit, Haß, Sarkasmus und Zynismus diese teils hymnischen, teils elegischen, geschmeidigen, teils stakkatohaften 16.000 Verse zu schreiben? Mit einem riesigen Objektiv, mit zeitdiagnostischem Gespür, wird das Kollektive im Brennpunkt des Individuellen gesammelt, wird zur menschlichen Binnenschau, reinen Subjektivität und Episteme, ja in einen Bedeutungszusammenhang gebracht. Die Lyrik Näzım Hikmets wurzelt tief in der anatolischen Erde seiner Heimat, ihre Äste und Blätter hingegen berühren den ganzen Kosmos. Seine Sprachwahrnehmung ist schon seit frühen Kindheitstagen an Sufi-mystischer Lyrik, wie auch an den Gedichten Lamartines geschult worden. Näzım Hikmet projiziert Bilder des Mythos in das Koordinatensystem des Logos, indem er sie zu einer didaktisch-dialektischen Synthese transformiert. Wie selbstverständlich akzeptiert man die Legende von Scheich Bedtrettin, einem türkischen Gelehrten und Mystiker des 14. Jahrhunderts, der in seinen Schriften die soziale Gleichheit aller Menschen (!) forderte und nach zwei Aufständen nackt in einem Basar in Thrakien aufgehängt wurde, als das Epos von einem Kombattanten für die classe dominée, gegen die classe dominant, obwohl ein halbes Jahrtausend uns von ihm trennt. Virtuos und gewissermaßen en passant schreibt er vom Scheich Bedtettin, dessen Schüler Börklüce Mustafa, vom Mystiker und Dichter Yunus Emre, von Celaleddin-Rumi, dem Kartographen und Seemann Piri Reis, vom Liebenden Kerem, von Ferhad und Shirin, vom despotischen Sultan Abdulhamid, aber auch von Heraklit, Don Quijote, Pierre Loti, Johann Sebastian Bach, Anne McGuire, Vitezslav Nezval, vom Geiger David Oystrach, den der im Gefängnis Weilende darum beneidet, daß er seine Frau Münevver bei einem Konzert in Istanbul zum Weinen gebracht hat, von Sevcenko, Meyerhold, Majakovskij, vom Berliner Restaurant Astoria, von Versailles oder vom irischen Cottage des Philosophen Berkeley. Näzım Hikmet verzweifelte nie an der Bitterkeit des Lebens. Der Mutter, die den todkranken Sohn im Gefängnis besuchte, soll er zwar Selbstmordgedanken offenbart haben, jedoch 62 darf angenommen werden, daß ihm während der aussichtslosen Gefängnisjahre die Liebe und Fürsorge seiner Frau Piraye, Münevvers, seiner Mutter, seines Lebensfreundes Va-Nu und dessen Frau Müzzehers, sowie die literarische Tätigkeit, die Malerei, aber auch der Unterricht mit den Mithäftlingen die Kraft zum Ausharren gegeben haben. Mit dem Bewußtsein, daß es das blutigste aller Handwerke ist, Dichter zu sein, ertrug Näzım Hikmet mit Geduld alles Leid, das ihm widerfuhr. Um hinter das Geheimnis aller Geheimnisse zu kommen, wußte er, mußt du von deinem Herzen essen und essen lassen. Näzım Hikmet verstummte auch nicht unter der sowjetischen Paralyse der Kritik. Schon in den ersten Jahren seines Exils in Moskau bemerkte der Dichter, nachdem ihn einmal ein Taxifahrer gefragt haben soll wohin Patron?, daß dies nicht mehr die Sowjetunion war, die er einst als junger Student verlassen hatte. Einem Revolutionstaumel und einer avantgardistischen Verve, beseelt von der messianisch-utopistischen Vision vom neuen Menschen, war Institutionalisierung und Bürokratisierung gefolgt. Näzım Hikmet schreckte aber nicht davor zurück, diese schlichte, nackte Antithese, die immer bizarrer werdende Inthronisation und Apotheose Stalins in Frage zu stellen. In der Türkei der 1950er Jahre goutierten selbst Teile der Bourgeoisie die Lyrik des Dichters mit der verlorenen Heimat, in geheimen Zirkeln kursierten seine Gedichte, andere hingegen — und dies nicht nur in der Türkei — geißelten die Sprache Näzım Hikmets als eine unter dem Banner des Bolschewismus ideologisch entstelltes Werkzeug. Wie aber ist dieser Justizirrtum, dieser Schandfleck an der Geschichte der modernen Türkei, möglich gewesen, den das britische Autorenpaar Saime Göksu und Edward Timms in dem Buch Näzım Hikmet — The Romantic Communist in seiner politischen Dimension nicht von ungefähr mit der legendären Dreyfus-Affäre vergleichen? Anatolien ist ein mystischer Boden, wo seltsame Dinge — auch in der Politik — passieren! Näzım Hikmets Ansehen ist größer denn je; rehabilitiert werden können nur Menschen, die Täter sind und Mitschuld tragen! Opfer rehabilitieren zu wollen, ist perfidester Zynismus! Das wissen auch die Täter, aus deren Reihen einige sogar Claims abgesteckt haben in Bezug auf das Werk Näzım Hikmets. Seit geraumer Zeit schon schwelt ein Kampf um den Besitzanspruch, der mit einer gewundenen, fast weinerlichen Rhetorik geführt wird. Politiker wie Süleyman Demirel wetteifern mit Hikmet-Zitaten und dekorieren sich und OSCE-Konferenzen mit den Versen Leben wie ein Baum einzeln und frei/ und brüderlich wie ein Wald,/ das ist unsere Sehnsucht ..., wenn es ihnen zupass kommt, und selbst Ultranationalisten entdecken die Vaterlandsliebe des Kommunisten Näzım Hikmet. Warum kennt man Näzım Hikmet im deutschsprachigen Raum so wenig? Es ist Zeit, uns dem Werk Näzım Hikmets eingehender zu widmen. Es ist Zeit. Ecevit Ari, geb. 1975 in Linz, besuchte die Mozartschule und das Akademische Gymnasium in Linz. Seit 1994 Studium der Medizin in Wien; 1997-2001 auch Studium der Philosophie (Wiener Kreis; Ludwig Wittgenstein) und Sprachwissenschaften. Lebt in Wien und Istanbul und schreibt Gedichte. Und liebt Ceylon Orange Pekoe-Tee vom Samowar. Veröffentlichungen u.a. in: Dulzinea,; Neue österreichische Lyrik (Anthologie). „Mein Herz schlägt im Gleichtakt mit dem entferntesten Stern — Biographische Skizzen zum 100. Geburtstag des größten Erneuerers der türkischen Literatur im 20. Jahrhundert“ wurde im Januar 2002 verfaßt und erscheint hier in gekürzter Form. Verwendete Literatur Vala Nureddin (Va-Nu): Bu dünyadan Näzım gecti, Remzi Kitabevi, Istanbul 1965 Nazim Hikmet: Memleketimden insan Manzaraları, Yasamak giizel sey be kardesim, Kuvayi Milliye, Benerci Kendini Nicin Oldiirdii, Yatar Bursa Kalesinde, Yeni siirler, Son siirleri, Ilk siirler, Adam Yayinlari. Istanbul 1987. Nazim Hikmet: Kurtulus Savası Destanı. 1965. Näzım Hikmet: Bursa cezaevinden Va-Nu’lara mektuplar, Cem Yayinevi. Istanbul 1986. Näzım, Hikmet: La neige dans la nuit et autres poemes. Paris: Gallimard 1999. Saime Göksu, Edward Timms: Näzım Hikmet — The Romantic Communist. London 1999. Dietrich Gronau: Näzım Hikmet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. — Alle Abbildungen sind diesem Buch entnommen. Anmerkungen 1 Peter Hamm: Schickt mir Bücher, die glücklich enden! In: Die Zeit Nr. 24/1964, 17. 2 Yali —so wird nur eine Villa mit Bootshaus am Bosporus genannt. 3 Gar — Bahnhof, vom französischen „gare“. 4 Als „Unabhängigkeitsgerichte‘“ wurden die Militärgerichte bezeichnet. 5 Peter Hamm, wie Anm. 1.