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gelassenen und zur eigenen Persönlichkeit darzustellen. Die 1959 in Kolumbien geborene Lyrikerin, Salsasängerin und Psychotherapeutin Sonia Solarte, die seit fast zwanzig Jahren in Berlin lebt, ist ihrer Muttersprache, dem Spanischen, als ihrer eigenen Literatursprache treu geblieben. Doch in ihren Texten verwebt sie das Dort und Hier, das Vorher, Nachher und Jetzt zu einer Einheit. In dem Gedicht „Die Knochen der Entwurzelung“ behandelt sie die Pendelbewegungen, zu denen sie sich immer gezwungen sieht, weil sich die Widersprüche gar so schwer versöhnen lassen: Zwischen zwei Welten pendelnd entdecken wir, wie fest sind doch die Fesseln der Vergangenheit. Es gilt einen Knoten in der Mitte zu lösen, in dem Hindernisse zu gekreuzten fiebrigen Kräften werden, der zu neuen Freuden ruft, um ein Wachstum zu versuchen, während wir das Starre anders benennen. Zwischen den Welten gähnt ein Abgrund, den ein Meer durchströmt, das Wasser als Sinnbild für Wegweiser und Hindernis. Jene Eintracht, die uns von sehenden Augen gegeben wurde, versinkt in dessen Tiefe. Mühelos können andere Bezeichnungen gefunden werden. Zwischen der Tat und ihren Aschen ist ein doppelter Raum. Der Schrei kommt nicht zu spät. Friede gibt es nur, wenn Spuren hinterlassen werden. Die Ruhe ist vorbei. Die Spiegel singen nicht. In ihnen erklärt das Schweigen die Zusammenhänge des Seins in Einsamkeit, ohne weitere Fragebögen, um die Umarmung zu besiegeln. Alles haben die Augen gesehen, selbst den Brunnen der eigenen Vergangenheit haben sie durchsucht und sich von den Versuchungen genährt, die von unerschrockenen Gesichtern ausgelegt wurden, um das Fremde zu betonen. Wir alle sind kluge Köpfe in dieser wunderbaren Erfindung, hochbegabt in der Kunst, mit einem Lächeln irgendwie weiterzuleben und solange in die Knochen der Entwurzelung zu beißen, bis sie völlig den Geschmack verloren haben.” Zur Nichtanerkennung als Migrantenautor tritt noch die Schwierigkeit, mit dem Schreiben ein Einkommen zu erzielen. „Leider kann ich in Österreich vom Schreiben allein nicht leben“, charakterisiert Nahid Bagheri-Goldschmied, geboren 1957 im Iran, seit 1980 in Österreich, ihre Situation. Das ist ein Problem, mit dem Migranten und Nichtmigranten bekanntermaßen nicht nur in Österreich konfrontiert 64 sind. Für Autoren, die einen Ortswechsel vollzogen haben, erweist sich die Lage als noch schwieriger, weil zum Mangel an entsprechenden Foren die Herablassung der genuin Muttersprachlichen tritt. Es kommt zwangsläufig zu Kulturschockphänomen, die zu erheblichen Zweifeln, mit der neu zu erwerbenden Sprache jemals die eigene Weltsicht ausdrücken zu können, führt. Manche Autoren verlieren für eine Weile die Fähigkeit, sich literarisch zu äußern. Die Zweifel der Migranten gründen sich auf die notwendige Phase von Ängsten und Trauer um verlorene Teile des Selbst, macht die Soziolinguistin Eva Gugenberger aufmerksam: „Die Muttersprache wird zum Symbol der verlorenen Heimat, schmerzhaft ruft sie Erinnerungen an das Heim, die Familie, das Dorf, die Landschaft hervor.“'' Die Entscheidung Schreiben oder Nichtschreiben liest sich bei Gülbahar Kültür, geboren 1965 in der Türkei und seit 1979 in Deutschland lebend, so: Wozu die Entscheidung? Das eine ist das Schreiben, das andere ist das Leben. Ob ich vom Schreiben leben soll oder vom Leben schreiben soll; Wer könnte mich zu einer Entscheidung nötigen? Das eine ist das Ganze, das Ganze ist das Eine.” Wenn sich ein Autor fiir den Sprachwechsel entscheidet, kann er das Uberschreiten der Grenze immer als Wunde empfinden, wie es Franco Bioni (geboren 1947 in Italien und seit 1965 in Deutschland lebend) in seinem Gedicht „Sprachfelder“ darstellt: In meinem Kopf haben sich die Grenzen zweier Sprachen verwischt doch zwischen mir und mir verläuft noch der Trennzaun der Wunden zurücklässt jedesmal wenn ich ihn öffne"? Nicht rückhaltlos in der Sprache eine Heimat finden zu können, ist jedoch nicht nur Migrantenautoren eigen. Schriftsteller, die nie gezwungen waren, ihre Sprache zu wechseln, können sich in dem von Kindheitsbeinen an wohlbekannten Idiom sehr fremd fühlen, wenn sie erkannt haben, dass es eine Sprache der politischen Herrschaft gibt, die einen aus der vertrauten Sprechweise vertreibt, die einen zu Exilierten aus der Muttersprache macht, weil sich hinter manchen Worten unakzeptable Ungeheuerlichkeiten verbergen. In diesem Zusammenhang sei der Verweis auf Victor Klemperer gestattet, der, um die in den Grundfesten erschütterte deutsche Sprache für sich zu retten, das legendär gewordene Buch „LII“ schrieb. Seine Beweggründe nannte er: „Die Balancierstange wollte ich aus der Masse des übrigen herauslösen und die Hände mitskizzieren, die sie hielten.‘“'* Aber nicht nur der Nationalsozialismus hat Autoren ihrer eigenen Sprache entfremdet. Sprache als Herrschaftsinstrument lässt auch dann verstummen, wenn weniger Gewalt und weniger Grauen im Spiel sind. Die deutschsprachige Autorin Sygun Schenck, die Jahre im nichtdeutschsprachigen Ausland verbrachte, hat den naiven Zugang zu dem von ihr in Kindertagen erworbenen Deutsch verloren. Ihre „Balancierstange“ ist eine ganz persönliche Beziehung zu einem anderen Menschen. Die Bedeutung dieser Beziehung ist nicht nur aus dem Text leicht herauszulösen, sondern wird noch dadurch unterstrichen, dass die Person namentlich genannt wird: mein wortheim ist nicht deines doch dein wort ist mir oft heim’ (für Peter) Es verwundert nicht, wenn Autoren ihre neue Heimat in der Sprache in fast intim zu nennender Weise ansprechen, wobei durchaus der Eindruck entstehen kann, diese Vertrautheit ist nur möglich, weil ihnen durch den Spracherwerb etwas zugewachsen ist, was sie der Welt zuwendet und was sie die Welt als Zuwendung erleben lässt. Ein nahezu programmatisches Gedicht hat der 1940 in der Türkei geborene und seit den 1960er Jahren in Deutschland lebende Yüksel Pazarkaya mit „deutsche sprache“ geschrieben: deutsche sprache die ich vorbehaltlos liebe die meine zweite heimat ist die mir mehr zuversicht die mir mehr geborgenheit die mir mehr gab als die die sie angeblich sprechen'‘ Aus seinem Text ist mehr herauszulesen als eine Zuwendung zur Sprache, nämlich eine unversteckte Kritik an den Muttersprachlern. Die neue Sprache gibt ihm mehr Geborgenheit als jene Menschen, die sie angeblich fehlerfrei beherrschen. Damit werden nicht nur all die sprachlichen Gebrechen gebranntmarkt, die aus Schlampigkeit oder sonstigen Gründen